Vortrag gehalten anläßlich der II. Ungarischen AvH-Stiftung-Konferenz ("Information - Wissen - Gesellschaft")
Budapest, 15.-17. November 2001

    NYÍRI Kristóf (Budapest):
 
 

Bilder als Wissensvermittler
in der Informationsgesellschaft



 
 
 
 
 
 

Bildliches Denken
Wissenschaft und Kommunikation
Schriftlichkeit und die Fragmentierung des Wissens
Ikonische Sprachen

 
 
 
 
 
 
 
 

Die geschichtlichen Wandlungen der Kommunikationstechnologie bewirken immer wieder Veränderungen in der Art und Weise des Wissenserzeugens und -bearbeitens und in der Natur des Wissens überhaupt. Der Buchdruck insbesondere spielte - unter den spezifischen europäischen Verhältnissen - eine entscheidende Rolle im Entstehen der modernen Wissenschaft. Der gedruckte Text wurde, in geringerem oder größerem Maße, oft von Bildern begleitet; doch herrschte stets der Text über das Bild. Die Logik des linearen Textes ermöglichte eine strenge Argumentation, führte jedoch, innerhalb der Wissenschaft, nicht nur zur Spezialisierung, sondern auch zu exzessiven Absonderungen. Der Philosoph und Soziologe Otto Neurath, ein führendes Mitglied des Wiener Kreises, vertrat als einer der ersten den Standpunkt, daß mit Hilfe einer Bildersprache eine neue Einheit der Wissenschaft erreichbar wäre. Gegen Ende meines Vortrages werde ich darauf hinweisen, daß die weitverbreitete Anwendung von Computergraphik und die Ausbreitung von Computernetzen zu einer Erfüllung der Neurathschen Vision führen kann.
 

Bildliches Denken

Es ist hauptsächlich gewissen Fortschritten in der kognitiven Psychologie zu verdanken, daß die Philosophie heute nicht mehr unter dem Alpdruck eines vermeintlich bilderlosen Denkens leiden muß. Und mit den sich zunehmend erweiternden Möglichkeiten digitaler Bildverarbeitung gewinnt gleichzeitig die Idee an Popularität, daß die Wortsprache durch eine Sprache der Bilder ergänzt, ja teilweise sogar ersetzt werden kann. In der Tat zeichnet sich bereits während der etwa letzten hundert Jahre eine "ikonische Wendung" ab - der Ausdruck stammt von Gottfried Boehm.(1) Erst mit dem Einbruch der Digitalisierung ist aber diese Wendung eine radikale geworden. Indem die Handhabung von Text einerseits und von Bild andererseits im Grunde nunmehr verwandte Vorgänge geworden sind, ist die Zeit einer technologiebedingten Dominanz des Textes über das Bild vorbei.

In seinem Buch Origins of the Modern Mind(2) unterscheidet Merlin Donald drei evolutionäre Übergänge innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Der erste Übergang, vom Menschenaffen zum Homo erectus, war gekennzeichnet vom "Entstehen der grundlegendsten Ebene der menschlichen Repräsentation, der Fähigkeit Ereignisse zu mimen, nachahmend zu wiederholen." Zur Donalds Hypothese einer mimetischen Kultur kommen wir gleich zurück. Der zweite Übergang, vom Homo erectus zum Homo sapiens, schloß die biologische Evolution des modernen Menschen ab. "Das Schlüsselereignis während dieses Überganges", schreibt Donald, "war die Herausbildung des menschlichen Sprechsystems, zusammen mit einer völlig neuen Fähigkeit für die Konstruktion und das Dekodieren von Narrativen."(3) Wie Donald betont: "Die Sprache bietete dem Menschen ein schnelles, wirkungsvolles Instrument zur Konstruktion und Vermittlung verbaler Symbole; aber was hätte eine solche Fähigkeit leisten können, wenn nicht bereits eine rudimentäre Form von Repräsentation vorhanden gewesen wäre? Die Sprache mußte irgendwelche semantische Grundlagen besitzen um von Nutzen zu sein, und die mimetische Kultur konnte dieselbe liefern."(4) Der dritte Übergang war "jüngsten Datums und größtenteils nicht-biologisch, führte jedoch, vom rein kognitiven Standpunkt aus gesehen, zu einer neuen Phase der Evolution, welche durch das Entstehen von visueller Symbolik und externellem Gedächnis als Hauptfaktoren der kognitiven Architektur gekennzeichnet war. Externelle symbolische Speicherung", unterstreicht Donald, "ist als eine Hardware-Veränderung in der menschlichen kognitiven Struktur zu verstehen, wenn auch als eine nicht-biologische Hardware-Veränderung."(5) Zum dritten Übergang rechnet Donald "drei in großen Zügen verschiedene Arten der visuellen symbolischen Erfindung", welche er als "bildlich, ideographisch und phonologisch" bezeichnet.(6) Unter diesen war es die bildliche, die zuerst entstand, und Donald weist darauf hin, daß dies schon die Anfänge "einer neuen kognitiven Struktur" bedeutete,(7) welche bereits primitive Formen des "analytischen Denkens" ermöglichen konnte, d.h. "formale Argumente, systematische Taxonomien, Induktion, Deduktion".(8)

Donald erinnert an Beobachtungen wie etwa das Vorhanden von intentionalen Fähigkeiten beim Kleinkind das der Sprache noch nicht mächtig ist, oder bei den analphabetischen Taubstummen vergangener Zeiten, und teilt also den Standpunkt, daß der menschliche Geist dem des Affen auch ohne der Sprache überlegen ist. Eben der Erklärung dieser vorsprachlichen Intelligenz soll nun die Hypothese einer mimetischen Kultur dienen. Mimesis ist grundlegend verschieden von Imitation, indem sie eine repräsentationale Dimension letzteren hinzufügt; sie ist die Wiederholung oder Wiederdarstellung eines Ereignisses oder Verhältnisses in symbolischer Absicht. Gesten, Gesichtsausdrücke, Körperhaltung, aber auch das Nachahmen von Lauten und Stimmen gehören zum Instrumentarium der mimetischen Repräsentation. Donald betont, daß diese Ebene der Repräsentation noch heute eine Rolle spielt, ja geradezu grundlegend ist. Griechische Tragödie, europäische Oper, aber auch das moderne Kino, meint z.B. Donald, stützen sich weitgehend auf die mimetische Ebene der menschlichen Kommunikation.(9) Und auch für die heute zunehmend vertretene Auffassung, daß das bildliche Denken weitgehend unabhängig von der Sprache sei - Donald weist hier auf die bahnbrechende Rolle von Rudolf Arnheims Visual Thinking (1969) hin(10) - , liefert die Annahme einer ursprünglichen mimetischen Repräsentationsfähigkeit handfeste Argumente.

Arnheim betonte die wesentlich bildliche Natur des Denkens, und das Plus, das das Bild dem Wort gegenüber vertritt. So wird etwa die transitive Relation zwischen den Größenunterschieden der Männchen a, b und c durch ein Bild viel einfacher ausgedrückt, als durch die propositionelle Reihe a > b, b > c, also a > c.

Bilder sind in der Tat ausgezeichnete Instrumente des rationalen Denkens. Ich möchte hier ein Beispiel anführen, das Lesern von Arthur Koestler freilich bekannt sein wird.(11) Koestler formuliert folgendes Problem:

Eines Morgens, genau zu Sonnenaufgang, begann ein buddhistischer Mönch einen hohen Berg zu besteigen. Der schmale Pfad, bloss ein oder zwei Fuß breit, wandt sich um den Berg und führte zu einem glänzenden Tempel am Gipfel. - Der Mönch wechselte im Aufstieg seine Geschwindigkeit, hielt oftmals an, um auszurasten und die getrockneten Früchte zu essen, die er mit sich trug. Kurz vor Sonnenuntergang erreichte er den Tempel. Nach einigen Tagen des Fastens und der Meditation begann er seinen Abstieg, zu Sonnenaufgang, entlang desselben Pfades, und wieder wechselte er seine Geschwindigkeit und legte unterwegs viele Pausen ein. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit beim Abstieg war natürlich höher als beim Aufstieg. - Beweise, dass es eine einzige Stelle des Pfades gibt, die der Mönch auf beiden Wegen zu genau derselben Tageszeit einnimmt.
Koestler liebte es, mit diesem Problem seine Freunde herauszufordern; jene unter ihnen, die mathematisch gebildet waren, versuchten es dann sogar mit komplizierten Gleichungen und kamen gewöhnlich zum Schluß, daß die Möglichkeit jenes einzigartigen Zusammentreffens nicht nur unbeweisbar, sondern auch sehr unwahrscheinlich sei. Eine Dame aber - eine weniger gebildete, wie Koestler bemerkt - kam nach einigem Nachdenken dazu, die Lösung sozusagen zu sehen. Was sie da sah - daß sich nämlich unabhängig von Distanzen, Zeiten und Geschwindigkeiten, irgendwann und irgendwo das postulierte Zusammentreffen in der Tat ereignet - läßt sich gut mit einer Animation zeigen.
 

Wissenschaft und Kommunikation

In seinem Aufsatz "Veranschaulichung und Erkenntnis" bezeichnet Bruno Latour die Techniken des Schreibens und der bildlichen Darstellung als das letzte Fundament der modernen Wissenschaft.(12) Durch diese Techniken werden die Gegenstände der Erkenntnis tragbar-beweglich und zugleich unveränderlich, und können dieselben in den Machtzentren der Erkenntnis gesammelt, vorgelegt und miteinander kombiniert werden.(13) Latour führt unseren István Hajnal nicht an, obwohl dessen Werk zum Teil auch für nicht-Ungarn zugänglich wäre;(14) ansonsten bietet er aber eine umfassende Übersicht der neueren Literatur des Themenkreises. Er weist insbesondere auf Jack Goodys Buch The Domestication of the Savage Mind (1977) hin, welches die systematisierend-logische Wirkung der alphabetischen Schriftlichkeit analysiert, und auf Elizabeth Eisensteins Werk The Printing Press as an Agent of Change: Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe (1979), in welchem die enge Verbindung zwischen der Verbreitung von gedruckten Büchern und den Anfängen der neuzeitlichen Wissenschaft dargelegt wird. Und natürlich führt Latour auch die glänzende Arbeit von William Ivins, Prints and Visual Communication an (1953).(15) Ivins machte seinerzeit darauf aufmerksam, daß das Fehlen einer entsprechenden Technik zur Vervielfältigung von Bildern im Verlauf der europäischen Geschichte etwa bis zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts eines der hauptsächlichen Hindernisse der Entwicklung der Wissenschaft war.

Die Technik zum Drucken von Bildern wurde um 1400 erfunden. Laut Ivins war diese Erfindung ein viel revolutionäreres Ereignis der Geschichte der Kommunikation, als die Erfindung des Buchdruckes ein halbes Jahrhundert später. Bilder wurden mehr oder weniger genau wiederholbar. Allerdings waren sie noch weit davon entfernt, getreue Abbildungen von gegebenen Naturgegenständen zu sein; selbst das Bedürfnis nach getreuer Repräsentation entstand erst allmächlich während des fünfzehnten Jahrhunderts. Der sogenannte Pseudo-Apuleius, 1483 in Rom herausgegeben, ist die gedruckte Version eines botanischen Manuskriptes aus dem neunten Jahrhundert, die Illustrationen wurden nach den im Manuskript enthaltenen Zeichnungen angefertigt und sind selbstverständlich zu jeglicher Pflanzenidentifizierung ungeeignet. Demgegenüber legte der Autor des 1485 in Mainz erschienenen Gart der Gesundheit, wie Ivins hervorhebt, bereits Wert darauf, daß dessen Bilder von einem erstklassigen Meister nach der Natur gezeichnet werden sollten.

Allerdings konnten weder Holzschnitte, noch Stiche oder Radierungen ganz originalgetreu sein. Ivins weist darauf hin, daß als Lessing seinen berühmten Aufsatz über die Laokoon-Gruppe schrieb, er keine verläßlichen Illustrationen zur Verfügung haben konnte. "Each engraver", schreibt Ivins, "phrased such information as he conveyed about [the statues] in terms of the net of rationality of his style of engraving. There is such a disparity between the visual statements they made that only by an effort of historical imagination is it possible to realize that all the so dissimilar pictures were supposed to tell the truth about the one identical thing. At best there is a family resemblance between them."(16) Bis zum Zeitalter der Photographie, betont Ivins, gab es keine Technologie zur genau wiederholbaren bildlichen Repräsentation einzelner Gegenstände.
 
 

Kopf des Laokoons. Stich um 1527, Holzschnitt um 1544, Radierung um 1606. Nach Ivins

Latours Aufsatz wird angeführt von Peter Galison, in seinem unlängst erschienenen Buch Image and Logic: A Material Culture of Microphysics.(17) Galison analysiert die Verbindungen zwischen der heutigen Physik - des näheren der Elementarteilchenphysik - und der Bildspeicherung. Er weist auf zwei konkurrierende Traditionen des Herstellens von Instrumenten hin. Wie er schreibt: "One tradition has as its goal the representation of natural processes in all their fullness and complexity - the production of images of such clarity that a single picture can serve as evidence for a new entity or effect. These images are presented, and defended, as mimetic - they purport to present the form of things as they occur in the world. ... Against this mimetic tradition", fährt Galison fort, "I want to juxtapose what I have called the 'logic tradition', which has used electronic counters coupled in electronic logic circuits."(18) Anfang der 1980-er Jahre, schreibt dann Galison, fand eine Verschmelzung der "bildlichen" und der "logischen" Traditionen statt, indem es zur Erzeugung von "elektronisch generierten, durch Rechner synthetisierten Bildern" kam.

Das Erscheinen der digitalen Graphik(19) ist freilich bloß ein einziger Aspekt der tiefgreifenden Veränderung, welche das Eindringen des Computers - wo man unter "Computer" heute nunmehr unwiderrufbar den vernetzten Rechner, d.h. das interaktive, multimediale Weltnetz verstehen muß - in das Alltagsleben der Wissenschaft bedeutet. Die von Latour diskutierten Formeln der Beweglichkeit, Unveränderlichkeit, Vorzeigbarkeit und Kombinierbarkeit gewinnen im Medium des Internets eine durchaus neue Bedeutung. Die auf der Buchkultur basierende Wissenschaft wird von einer im Weltnetz beheimateten Wissenschaft abgelöst.
 

Schriftlichkeit und die Fragmentierung des Wissens

Für das siebzehnte und das frühe achtzehnte Jahrhundert war noch ganz der Glaube an die Möglichkeit eines durch eindeutige Perspektiven geordneten, zusammenhängenden Wissensganzen kennzeichnend;(20) ein Glaube, der vor dem Hintergrund des durch den Buchdruck hervorgebrachten einheitlichen kategorialen, chronologischen und taxonomischen Rahmens entstehen konnte. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem ungeheuer werdenden Umfang und der schieren Unüberschaubarkeit der Welt der gedruckten Texte verblaßt dieser Glaube immer mehr. Wo aber der abstrakt-begriffliche Text versagt, können Bilder ggf. ein Verständnis ermöglichen. Nicht von ungefähr arbeitete also Otto Neurath - ein leidenschaftlicher Vorkämpfer der Idee der Einheitswissenschaft im Sinne des logischen Positivismus - , an einem Programm zur bildlichen Ergänzung der Schriftsprache. Dieses Programm zielte auf eine bessere Integration von Text und Bild ab und wurde, nachdem Neurath Österreich 1935 verließ, unter der Bezeichnung "International System Of TYpographic Picture Education", als isotype abgekürzt, weitergeführt. Es handelt sich hier um ein zweidimensionales System(21) voneinander gegenseitig abhängenden und miteinander gegenseitig verknüpften Zeichen, welches zwar in Verbindung mit Wortsprachen verwendet werden, dennoch eine eigene visuelle Logik besitzen sollte. "Oft ist es sehr schwer", schrieb Neurath, "in Worten zu sagen, was dem Auge direkt klar ist. Wir brauchen nicht in Worten zu sagen, was wir mit Hilfe von Bildern klarmachen können."(22) Isotype sollte in den Dienst einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft gestellt werden. "Was wir Wissenschaft nennen", meinte Neurath, "kann als die typische Art des Argumentierens angesehen werden, die den Menschen aller Nationen, reich und arm, gemeinsam ist. ... - Es ist wichtig, das, was den Menschen gemeinsam ist, in einer Sprache auszudrücken, die möglichst einfach und neutral ist. Eine Bildersprache, die Hieroglyphensprache, hat den Vorteil, von der Wortsprache unabhängig zu sein, ist besonders geeignet, faktische Information auf vereinfachte Weise zu vermitteln, und hat eine gewisse Neutralität."(23)

Neurath konnte seine hochfliegenden Ideen nicht verwirklichen - seine Experimente waren unter den kommunikationstechnologischen Bedingungen einer typographischen Zeit noch verfrüht. Die ikonische Revolution, deren Teilnehmer wir heute sind, schafft aber nunmehr offensichtlich die Voraussetzungen zum Aufbau von Bildersprachen.
 

Ikonische Sprachen

Die von Yazdani und Barker herausgegebene Sammlung Iconic Communication wurde im April dieses Jahres veröffentlicht.(24) Der Band stellt einen Wendepunkt dar: Die in demselben enthaltenen Aufsätze künden die Erweiterung, ja manchmal sogar die Ablösung der Wortsprache durch visuelle Sprachen an. Der Grundgedanke ist nicht neu - der Band weist u.a. immer wieder auf die Neurathschen Ansätze hin. Neu hingegen - wenn auch nicht ohne Vorgeschichte - ist die Analyse der Möglichkeiten der ikonischen Sprache vor dem Hintergrund digitaler Graphik und vernetzter Kommunikation. Die Architekten der visuellen Sprachen entdecken als ein neues Anwendungsgebiet den Bildschirm, und insbesondere den kleinen Bildschirm. In dem von Yazdani geschriebenen Kapitel des Yazdani--Barker-Bandes taucht bereits, am Horizont des Gedankenganges, das Thema einer möglichen Verbindung bildlicher Kommunikation und Mobiltelefon auf. Ein Thema, das nicht bloss technische, sondern eben auch psychologische, sprachwissenschaftliche und philosophische Probleme aufwirft.

Unter den Autoren des Yazdani--Barker-Bandes vertritt Colin Beardon bereits seit mehreren Jahren sehr entschieden die Auffassung, dass die eventuelle Mehrdeutigkeit eines Bildes aufgehoben werden kann durch eine glückliche Animation; dass wo das unbewegte Bild oft der Deutung bedarf, das bewegte Bild - sich selbst deutet. Betrachten wir z.B. in Beardons System -- welches, zu einer Zeit entstanden, wo es WAP-Geräte noch überhaupt nicht gab, nicht unähnlich einem WAP-Browser ausschaut - das schematische Bild mit der Bedeutung "ein Mann begibt sich in die Stadt".(25) Das Faktum und die Richtung der Bewegung wird durch einen Pfeil angedeutet. Nun können wir sagen, dass der Pfeil kein natürliches Symbol ist: für Mitglieder solcher Kulturen, die Bogen und Pfeil nicht kennen, bedeutet derselbe nichts, bzw. bedeutet überhaupt nur dann etwas, wenn man sich dessen konventionelle Bedeutung angeeignet hat. Wenn der Pfeil hingegen durch die tatsächliche Bewegung eines einen Mann darstellenden Ikons ersetzt wird, kann sich eine solche Schwierigkeit kaum ergeben. Ich möchte da folgende Formulierung wagen: Während das unbewegte Bild den Wörtern der Wortsprache entspricht, entspricht die Animation den Sätzen. Die animierte ikonische Sprache ist sowohl in ihren intuitiven, als auch in ihren konventionellen Elementen ein reicher, dichter Bedeutungsträger, die sich besonders dafür eignet, viel Information auf einem kleinen Bildschirm mitzuteilen. Das Ausarbeiten solcher Sprachen muss als eine unumgängliche Aufgabe der Gegenwart und der nächsten Zukunft angesehen werden.

Die vernetzte, interaktive, multimediale Kommunikation (das "Internet") bedeutet nichts geringeres, als die Zurücknahme der kommunikationstechnologischen Entfremdung - die kommunikationstechnologische Wiederbefreiung des Menschen. Die den Menschen heute umgebende zweite Natur - eine vernetzte, interaktive, multimediale Umwelt - ist, auf einer höheren Ebene, mit der ursprünglichen, naturwüchsigen gesellschaftlichen Umwelt identisch. Die multimediale Umgebung ist eine ideale Bildungsumgebung. Und wenn auch sowohl der lineare Text als auch insbesondere das hardcopy Dokument seine Bedeutung weiterhin beibehalten, endet - ich fasse zusammen - das Aufkommen der digitalen Graphik die absolute Herrschaft des Textes über das Bild. Auf dem Gebiet der Wissenschaft treten infolge der Digitalisation Text und Bild in eine wesentlich engere Beziehung zueinander, als dies früher der Fall war. "Worte trennen, Bilder verbinden", sagte Neurath;(26) außerdem läßt sich ja im Medium des Internets die disziplinäre Absonderung ohnehin nicht aufrechterhalten. Die Perspektive einer einheitlichen Wissenschaft ist heute weit weniger illusorisch, als sie noch vor einigen Jahrzehnten war. Die Welt der vernetzten, digitalen Bildherstellung und -verwendung ist eine transdisziplinäre Welt.(27)


ANMERKUNGEN


1. Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? München: Wilhelm Fink Verlag, 1994, zweite Auflage 1995, S.13.

2. Merlin Donald, Origins of the Modern Mind: Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, Mass.: Harvard University Press,1991.

3. A.a.O., S.16.

4. Ebd., S.199.

5. Ebd., S.17.

6. Ebd., S.278.

7. Ebd., p.284.

8. Ebd., S.273.

9. Ebd., S.184. - Wir fügen hinzu, daß die mimetische Dimension besonders beim Stummfilm eine dominierende Rolle spielen mußte. Der ungarische Schriftsteller Béla Balázs publizierte 1924 ein einflußreiches Buch über die Theorie des Films (Der sichtbare Mensch). Im Film - in der neuen Volkskunst - meinte Balázs ein Medium zu erblicken, welches die durch den Buchdruck entstandene Kommunikationskluft wieder zu schließen vermag. "Die ganze Menschheit ist heute schon dabei", schrieb Balázs, "die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. ... Der Mensch wird wieder sichtbar werden. - ... die Gebärdensprache ist die eigentliche Muttersprache der Menschheit." (Balázs, Schriften zum Film I-II, Bd.I: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922-1926, Budapest: Akadémiai Kiadó, 1982, S.53.) Balázs, der Anfang der zwanziger Jahre in Wien lebte und auch in Musils Gesellschaft verkehrte (Musil veröffentlichte eine Besprechung vom Buch Der sichtbare Mensch), blieb nicht ohne Wirkung auf die heutige Kommunikationsphilosophie: er wurde später u.a. von Marshall McLuhan und sein Kreis in Toronto rezipiert - wie auch der Wiener Wittgenstein, oder der sich mit den soziologischen Auswirkungen der europäischen Schriftlichkeit im Mittelalter befassende ungarischer Historiker István Hajnal (vgl. unten, Anm. 13). Das ehemalige Vielvölkerreich scheint eine fruchtbare Umgebung für kommunikationsphilosophische Ideen gewesen zu sein...

10. Ebd., S.167.

11. Vgl. Koestler, The Act of Creation, London: Hutchinson, 1964, S.183f. Koestler weist auf die Juni 1961 Nummer der Zeitschrift Scientific American als seine Quelle hin, bemerkt aber, dass die Aufgabe ursprünglich vom Psychlogen Carl Duncker formuliert wurde.

12. Bruno Latour, "Visualization and Cognition: Thinking with Eyes and Hands", Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Greenwich, CT: JAI Press, 1986, S.3.

13. Ebd. S.7. - "Economics, politics, sociology, hard sciences", schreibt Latour, "do not come into contact through the grandiose entrance of 'interdisciplinarity' but through the back door of the file. ... domains which are far apart become literally inches apart", ebd., S.28. - Latour weist auf die neuen Richtungen in Wissenschaft und Technologie hin, welche "can accelerate the mobility of traces, perfect their immutability, enhance readability, insure their compatibility, quicken their display: satellites, networks of espionage, computers", ebd. S.30.

14. Ich denke hier vor allem an Hajnals Aufsatz "Le rôle social de l'écriture et l'évolution européenne", welcher in der in Brüssel herausgebenen Zeitschrift Revue de l'Institut de Sociologie Solvay 1934 erschienen ist.

15. William M. Ivins, Jr., Prints and Visual Communication, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1953.

16. Ibid., p.89.

17. Chicago: University of Chicago Press, 1997.

18. Ebd. S.19.

19. Dessen Bedeutung nicht bloß in der einfachen Abbildung oder in der Herstellung lebensgetreuer Rekonstruktionen besteht, sondern - wie ich eingangs andeutete und unten darauf nochmals zurückkommen werde - in der Ermöglichung eines neuen, konventionellen, bildlichen Zeichensystems. Die Formulierungen in David Knights "Seeing and Believing in Chemistry" sind aufschlußreich. Die von der Chemie untersuchten Strukturen, schreibt Knight, "cannot be comprehended without a visual language of pictures and diagrams, now often embodied in computer programmes. ... Convention, rather than realism, entered the world of chemical illustration rather before it came to the realm of fine art" (Knight, a.a.O., in Olaf Breidbach und Karl Clausberg, Hrsg., Video ergo sum: Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut, 1999, S.181. und 191).

20. Ausführlich dazu: J.C. [Kristóf] Nyíri, "Electronic Networking and the Unity of Knowledge", in: Stephanie Kenna und Seamus Ross (Hrsg.), Networking in the Humanities, London: Bowker-Saur, 1995.

21. "Zeichen werden gewöhnlich auf einer Ebene zusammengestellt; manchmal sind sie auch Körper im dreidimensionalen Raum. Schreiben oder Sprechen haben nur eine Dimension - die Laute folgen einander in der Zeit, die Wortzeichen folgen im allgemeinen einander auf dem Papier, die telegrafischen Zeichen z.B. auf einem langen, schmalen Papierstreifen. Dasselbe gilt für Bücher - daß ein Wort über einem anderen auf der nächsten Zeile steht, hat keinen Einfluß auf seine Bedeutung. ... das Isotype-System ... benutzt die Verbindung der Zeichen nicht nur in einer, sondern in zwei Richtungen, und das Resultat ist ein 'Sprachbild'." (Neurath, "Internationale Bildersprache", in: Gesammelte Bildpädagogische Schriften, herausgegeben von Rudolf Haller und Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1991, S.376. Ursprünglich: International Picture Language, London: 1936.

22. "Die Wissenschaft berichtet uns von alten Bildersprachen", fährt er fort, "die allgemein verwendet wurden, z.B. auf den ersten Stufen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Die Zeichen sind uns heute oft nicht sehr klar, aber sie waren klar, als und wo sie gebraucht wurden. Wir können die alten Zeichen nicht übernehmen, wie sie sind. Sie müssen den Formen von heute und morgen angepaßt werden, wenn sie in allgemeinen Gebrauch kommen sollen. Einem Zeichen eine bestimmte Form zu geben, die geeignet ist zum internationalen Gebrauch, möglicherweise für eine große Zahl von Jahren, ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. ... Es geht nicht an, ausschließlich den Geschmack des Tages zu befolgen; wir müssen auch die Erfahrungen der Geschichte berücksichtigen. Die Bilderschrift von Alt-Ägypten und Schlachtenbilder auf alten militärischen Karten ... sind eine große Hilfe beim Ausbau eines Systems von Zeichen" ("Internationale Bildersprache", S.363 und 366).

23. Neurath, "Bildpädagogik: Humanisierung gegen Popularisierung", Gesammelte bildpädagogische Schriften, S.649 (ursprünglich: "Visual Education: Humanisation versus Popularisation", 1945).

24. Masoud Yazdani und Philip Barker, Hrsg., Iconic Communication, Bristol: Intellect Books, 2000.

25. Ich folge hier Beardons Aufsatz "Discourse Structures in Iconic Communication", erschienen in Artificial Intelligence Review 9/2--3 (1995). Der Aufsatz ist unter der Web-Adresse http: //www.esad.plym.ac.uk/personal/C-Beardon/papers/9508.html erreichbar.

26. "Internationale Bildersprache", a.a.O., S.359.

27. Wie Barbara Stafford in ihrem glänzenden Buch Good Looking: Essays on the Virtue of Images schreibt: "Wir müssen ein Gebiet der bildlichen Untersuchungen schaffen [forge an imaging field], das sich mit transdisziplinären Problemen beschäftigt. ... Aber sogar der transdisziplinäre Ansatz ... geht nicht weit genug. Wir müssen endlich die institutionalisierte Vorstellung verwerfen, laut der nur die 'reine' Forschung bewunderungswürdig ist - die auf Bilder gerichtete Forschung miteinbegriffen... Man sollte jener Ansicht, derzufolge ein großer Teil unserer sinnvollsten Untersuchungen eben dadurch lebendig ist, daß sich diese auf praktische Probleme richten, volle Aufmerksamkeit schenken. ... die dynamische Visualisation bildet eine sinnlose Datenmenge, eine Kette von Zeichenstücken, oder eine unendliche Serie von miteinander nicht verknüpften Fragmenten zu etwas Sinnvollem um" (Barbara Maria Stafford, Good Looking: Essays on the Virtue of Images, Cambridge, Mass.: MIT, 1996, S.10, 14 und 25).