Kristóf Nyíri:
Netzwerk und
Erkenntnismacht
Daß die jetzige Konferenz
zum Thema Netzwerke im Rahmen einer österreichisch-ungarischen Zusammenarbeit
vorbereitet wurde, sollte man besonders passend finden. Denn österreichisches
und ungarisches Denken wirken an der Herauskristallisierung dieses Themas
spätestens seit den neunzehnhundertzwanziger Jahren durchaus mit. Man könnte
sogar von einem spezifisch österreichisch-ungarischen Interesse an Netzwerken
sprechen. In meinem Vortrag möchte ich den Gründen dieses Interesses nachgehen
und abschließend ein jüngstes Resultat desselben präsentieren. Ich muß
um Ihr Verständnis dafür bitten, daß in meinem Vortrag immer wieder längere
Zitate vorkommen – Zitate sind für den Geistesgeschichtler was experimentelle
Darbietung für den Physiker oder das Sezieren für den Anatomen: sie zeigen
anschaulich, was ansonsten der Vortragende bloß sagen und behaupten kann.
Österreichisch-ungarische Ansätze
Der Netzbegriff spielt
eine wesentliche Rolle in der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins. In
der 1938 verfaßten Urfassung des Vorwortes zu den Philosophischen Untersuchungen
dient das Wort "Netz" als die erklärende Metapher, die den gedanklichen
Aufbau des Buches beleuchten soll. Nach jahrelangen Bemühungen, ein herkömmliches
Buch zustandezubringen, berichtet hier Wittgenstein, mußte er zur Überzeugung
kommen, daß er "alle solche Versuche aufzugeben hätte". Und er fährt fort:
"Es zeigte sich mir, daß das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur
philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten,
wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, in einem
Geleise festzuhalten. Dies hing freilich auch mit der Natur des Gegenstandes
selbst zusammen. Dieser Gegenstand zwingt uns, das Gedankengebiet kreuz
& quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen – so daß die einzelnen
Gedanken in einem verwickelten Netz von Beziehungen zu einander stehen."[1]
In der gedruckten Variante des Vorwortes ist das Wort "Netz" zwar nicht
enthalten, die weiterhin vorhandene Formel "ein weites Gedankengebiet,
kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen" bewahrt aber
m.E. durchaus den Sinn der früheren Fassung. Zu einem gewissen Moment in
der Rezeptionsgeschichte dieser Formel komme ich weiter unten noch zurück.
An jener Stelle in den Philosophischen Untersuchungen, wo Wittgenstein den wohl wichtigsten Begriff seiner Spätphilosophie, den der "Familienähnlichkeiten" einführt, tritt der Begriff des Netzes ebenfalls in den Vordergrund. Ich zitiere aus den 1936–37 entstandenen Abschnitten 65 bis 67 des sog. I. Teiles. "Statt etwas anzugeben", schreibt er hier, "was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind mit einander in vielen verschiedenen Weisen verwandt." Ähnliches stellt man fest, wenn man z.B. verschiedene Spiele betrachtet. "Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam?" – fragt Wittgenstein. – "Sag nicht: »Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht 'Spiele'« – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe." Das Ergebnis dieser Betrachtung faßt Wittgenstein dann folgendermaßen zusammen: "Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen." Und er fährt fort: "Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort »Familienähnlichkeiten«; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc." – Die Verbindung von "Familienähnlichkeit" und "Netz" taucht 1936, im Notizbuch 115, zum ersten Mal in Wittgensteins Aufzeichnungen auf. Dort heißt es: "Wir sehen, ein weitverzweigtes Netz von Familienähnlichkeiten verbindet die Fälle in denen der Ausdruck der Möglichkeit, Fähigkeit gebraucht wird..."
Eine beeindruckende Parallele zu den eben zitierten Zeilen Wittgensteins – übrigens praktisch zur gleichen Zeit geschrieben – findet man bei Musil. Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, meditiert in einem der Nachlaßkapitel[2] über die hundertundein Arten der Liebe. "Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird", denkt Ulrich, "hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames »Gabeligsein« zugrunde; aber es steckt nicht als gemeinsamer Kern in ihnen... Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn ... nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern, und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat."
Eine Kette ist allerdings
kein Netz; das Phänomen Netzwerk ist im Mann ohne Eigenschaften
weniger thematisiert als vielmehr verkörpert. Der Philosoph Musil sah sich,
ganz wie Wittgenstein, letztlich außerstande, seine Argumente gleichsam
sukzessiv, in Form einer Abfolge zu entwickeln; er konnte allein noch im
Medium eines Romans sich mitzuteilen versuchen, da doch, wie es die Herausgeber
der Klagenfurter Nachlaßedition seines Essays "Der deutsche Mensch als
Symptom" hervorheben, seine Probleme, "wenn überhaupt, so nur episch" zu
lösen waren, "im Spielraum von Erzählung, Reflexion und Gespräch, wo alles
in vielfältige Beziehungen zueinander tritt, relativiert und zurückgenommen
werden kann."[3]
Daß sich die lineare Technologie des Buchdruckes schließlich als ungeeignet
erwies, als Träger des Musilschen Versuches zu dienen, ist bekannt; sein
Nachlaß steht jetzt als Hypertext-Ausgabe, mit entsprechender Such-Software,
auf CD-ROM zur Verfügung.
Ich komme jetzt zu ungarischen
Ansätzen. Der Historiker István Hajnal, der ab 1913 mit einigen Unterbrechungen
mehrere Jahre in Wien verbracht hat, veröffentlichte 1921 seine Habilitationsarbeit
Írástörténet
az írásbeliség felujulása korából. In der deutschen Zusammenfassung,
die den Titel "Die Erneuerung des Schreibwesens: Ein Beitrag zur Schriftgeschichte"
trägt, beginnt Hajnal mit der Feststellung, daß das ursprüngliche Ziel
seiner Forschungen "die Vergleichung des österreichischen und ungarischen
Schreibwesens im XII. und XIII. J[ahrhundert]" war. Tatsächlich führten
aber diese Forschungen bereits in der Habilitationsarbeit weit über jenes
Ziel hinaus: Hajnal beweist, daß größere Veränderungen in dem Urkundenschriftstil
jener Jahrhunderte praktisch gleichzeitig in Frankreich, Deutschland, Österreich
und Ungarn erfolgten. Die Pariser Universität stand im Mittelpunkt jenes
Netzes, durch das die Neuerungen ausstrahlten. Salzburg, Wien, Esztergom
waren Knotenpunkte, nodes, im Netz; Paris der hub.
Die technischen Ausdrücke
im vorangehenden Satz stammen natürlich nicht von Hajnal;[4]
wir alle sind als Leser von Albert-László Barabásis Linked: The New
Science of Networks mit denselben vertraut. Der aus Siebenbürgen stammende
ungarische Physiker an der Universität Notre-Dame und seine Mitarbeiter
entdeckten 1999, daß im World Wide Web die Verbindungen zwischen den einzelnen
Teilnehmern keiner normalen statistischen Verteilung folgen. Es gibt einige
wenige Knotenpunkte mit vielen Verbindungen, und sehr viele Knotenpunkte
mit nur ganz wenigen Verbindungen. Das World Wide Web ist also keineswegs
ein zufälliges Netzwerk im Sinne der ungarischen Mathematiker Pál Erdõs
und Alfréd Rényi, die 1959 eine Reihe von bahnbrechenden Studien zum Thema
verfaßten. Und eben durch das Vorhandensein von hubs mit überdurchschnittlich
dichten Verbindungen werden Netzwerke zu sogenannten "kleinen Welten",
in welchen sich die Distanz zwischen beliebigen zwei Knotenpunkten auf
nur einige Schritte beschränkt. Mehr als eine Milliarde Web-Seiten, schreibt
Barabási, sind nur 19 Klicks voneinander entfernt. Sechs Milliarden Menschen
sind nur sechs Handschläge voneinander entfernt. Letzterer Gedanke wurde,
wie Barabási darauf betont hinweist, zuerst vom ungarischen Schriftsteller
Frigyes Karinthy formuliert, in seiner 1929 erschienenen Kurzgeschichte
"Ketten". Daß Erdõs und Rényi diese Kurzgeschichte kannten, findet Barabási
wahrscheinlich; ob dieselbe auf den in New York von einer rumänischen Mutter
und einem ungarischen Vater geborenen Soziologen Stanley Milgram, der die
Idee "six degrees of separation" experimentell bewies, einen Einfluß haben
konnte, läßt er dahingestellt. Daß aber ungarische Köpfe einen auffallend
großen Anteil an der Entwicklung der Theorien von Netzwerken hatten bzw.
haben, während auch wichtige österreichische Beiträge hierzu ideengeschichtlich
nachweisbar sind, scheint mir unbezweifelbar zu sein. Gibt es eine einleuchtende
Erklärung für die bahnbrechende netzwerktheoretische Rolle des ungarischen
und österreichischen Denkens? Meine Antwort möchte ich durch eine scheinbare
Abschweifung vorbereiten.
Österreich und Ungarn: Gebrochene Kommunikation
In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder die These formuliert, daß es so etwas wie eine spezifisch österreichisch-ungarische Kommunikationsphilosophie gibt.[5] Ich habe eine Reihe von Autoren angeführt, wie etwa den ungarischen Philosophen Melchior Palágyi, den Altphilologen József Balogh, den oben bereits genannten Hajnal, den Dichter, Dramatiker und Filmkritiker Béla Balázs, und auf österreichischer Seite natürlich Musil. Worin bestanden hier die wichtigsten entsprechenden Ansätze? Palágyi liefert in seinem 1904 erschienenen Az ismerettan alapvetése[6] – "Grundlegung der Erkenntnistheorie" – im Umriß geradezu eine umfassende philosophische Analyse der Geschichte der Kommunikationstechnologien. Wie die Schrift die Zeit überbrückt, so überbrücken etwa Telegraph und Telephon, schreibt er, die Distanz. Entscheidend aber bleibt, daß die Sprache nicht nur Kommunikationsmittel, sondern in allen ihren Gestalten – als gesprochene, geschriebene, usw. – auch ein Medium des Denkens ist. Balogh veröffentlichte 1921 seinen bahnbrechenden Aufsatz "Voces Paginarum": Adalékok a hangos olvasás és írás kérdéséhez.[7] Eine erweiterte deutsche Fassung erschien 1926 unter dem Titel "Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens".[8] Balogh beweist, daß das laute Lesen die ursprüngliche und natürliche Form des Lesens überhaupt ist. Wodurch verstummte das Lesen? Begonnen hat diese Entwicklung zunächst mit der Einführung der Worttrennung im Mittelalter; und wurde dann beschleunigt mit dem Entstehen des Buchdruckes. Das stumme Lesen ist eine Folge der Mechanisierung des Schreibens und Lesens. Diese Mechanisierung, meint Balogh, "hält bis zum heutigen Tage ununterbrochen an. Die Schreib-, Diktier-, Sprech-Maschinen einerseits, Fernschreiber, Fernsprecher und »Broadcasting« andererseits stehen alle im Dienste der Mechanisierung des geschriebenen und gesprochenen menschlichen Wortes; ein besonderer Platz gebührt dem Kinematographen, der nicht nur die Sprache von der Bühne verdrängt hat, sondern auch in mancher Hinsicht zum Surrogat des Buches wurde." Baloghs Werk wurde bald von Hajnal rezipiert. Wie er sich in einer einleitenden Skizze zu seinem 1935 veröffentlichten Buch Az újkor története, "Geschichte der Neuzeit", ausdrückt: "Die Schrift als ein Instrument der Kommunikation hat ... nunmehr alles in sich aufgenommen, das früher das Eigentum der gesprochenen Sprache war. ... Damit beginnt sie ihre eigene Rolle zu beenden: besonders wenn die Künste und das Kino mit dem hervorzaubern der Empfindungswelt befriedigen. In diesem Zustand der Sättigung muß die einseitige Rolle der Schriftlichkeit zu einem Ende kommen. ... Wieder einmal ist die Mündlichkeit unsere Sehnsucht, die mögliche Ausschaltung der Schrift..."
Béla Balázs lebte in den
zwanziger Jahren in Wien. Sein Buch Der sichtbare Mensch, ein Buch
über die Ästhetik des Films, erschien 1924. Ein Hauptgedanke dieses
Buches ist, daß "unsere Worte nicht nur nachträgliche Abbilde unserer Gedanken"
sind, sondern ihre "im vornhinein bestimmenden Formen". Balázs's Buch wurde
1925 von keinem Geringerem als Robert Musil besprochen. Musil, dessen ursprünglicher
Beruf ja der eines Ingenieurs war, war besonders hellhörig, wenn es um
eine philosophische Deutung der Geschichte aus kommunikationstechnologischer
Sicht ging. Ich erinnere nur an seine berühmte Kritik von Spenglers Untergang
des Abendlandes, wo es heißt: "das Wachstum der Anzahl daran beteiligter
Menschen [ist] die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation.
... diesem Volumen des sozialen Körpers [entspricht] seine Leitfähigkeit
für Einflüsse nicht mehr... Keine Initiative vermag den sozialen Körper
auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner
Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder
niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme."[9]
Die Gründe nun für das Zustandekommen einer eigenständigen und wegbereitenden österreichisch-ungarischen Kommunikationsphilosophie sehe ich einerseits in dem madjarischen Erlebnis einer sprachlichen Barriere im Zeitalter intensiver werdenden internationalen Kulturverkehrs, und andererseits in der Erfahrung der gebrochenen Kommunikation innerhalb Zisleithaniens. Man vergegenwärtige sich die Bemerkung Arthur Koestlers über das "lebenslange intellektuelle Ghetto", in welches die ungarischen Schriftsteller als Folge der Isolation ihrer Muttersprache gezwungen werden;[10] aber auch die Zisleithanien charakterisierende sprachliche Schizophrenie. Gebrochene Kommunikation – natürlich denkt man hier an Freud. Ich erinnere aber auch an die Äußerung Mauthners: "[I]ch verstehe es gar nicht", schrieb er, "wenn ein Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren ist, zur Sprachforschung nicht gedrängt wird. Er lernte damals ... genau genommen drei Sprachen zugleich verstehen ..., mußte gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner »Vorfahren« verehren."[11] Ich erinnere an den Triester Ettore Schmitz, der den Namen "Italo Svevo", "der italienische Schwabe", angenommen und das Italienische als die Sprache seines literarischen Wirkens gewählt hat, obzwar er sich nicht ohne Schwierigkeiten in dieser Sprache ausdrücken konnte: War es doch für ihn nicht möglich, in jenem von deutschen und slawischen Einflüssen gefärbten italienischen Dialekt zu schreiben, den er als seine Muttersprache sprach. Oder ich erinnere an den Konflikt von Hochdeutsch und Dialekt etwa bei Grillparzer oder bei Weinheber. Es ist nicht leicht, schrieb doch Weinheber an einen Freund, "eine große Lebenslinie in der Kunst durchzuhalten; bei mir umso schwerer, als ich ja in zwei Sprachen denke, im Wienerischen und im Hochdeutschen."[12] Sogar bei Wittgenstein läßt sich dieser Konflikt beobachten, bzw. es entsteht bei ihm die entsprechende Reflexion – in seinem Wörterbuch für Volksschulen.
Österreich und Ungarn: Gestörte Vernetzung
Die kommunikationsphilosophische Vorrangstellung von Österreich und Ungarn scheint also eben auf Mangeln der Kommunikation zurückzuführen sein. Ob sich wohl ein ähnliches Erklärungsschema auf die Gründe netzwerktheoretischer Sensibilität anwenden läßt? Gibt es so etwas wie Elemente fehlender oder atypischer Vernetzung im Hinblick auf Österreich und Ungarn? Den Mut zur bejahenden Antwort schöpfe ich aus einem Essay von Herbert Hrachovec, 1997 geschrieben, erschienen in dem von Peter Fleissner und mir herausgegebenen Band Philosophy of Culture and the Politics of Electronic Networking: Austria and Hungary – Historical Roots and Present Developments.[13] Das Essay heißt "Austro-Hungarian Disconnections" und berichtet von den vergeblichen Versuchen des Autors, von Wien aus unmittelbare Verbindung zu ungarischen Websites herzustellen. Daß heute dieselben Versuche weitaus erfolgreicher ausfallen würden ist freilich klar; die prinzipielle Folgerung des Essays scheint mir indessen nach wie vor gültig zu sein. "The two points I started with", schreibt Hrachovec, "share an obvious property: both are situated at the periphery... Politically speaking, peripheral status could – somewhat loosely – be defined as pertaining to regions which cannot be accessed from different regions, except for by passing through a central node. Having to establish a connection between Vienna and Budapest via New York is a clear indication of life on the periphery."
Ich möchte kurz drei Geschichten erzählen. Die ersten beiden sollen eben das Netzwerkmuster Peripherie-Schicksal ideengeschichtlich illustrieren; die dritte das Muster Netzwerk in der Fremde. Der tragische Held der ersten Geschichte ist der 1896 in Lemberg geborene und 1961 in Israel verstorbene Ludwik Fleck, Mediziner, Wissenssoziologe und Philosoph, dessen geniales, bahnbrechendes und heute sehr oft zitiertes Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv 1935 in Basel erschienen ist. Als das Buch 1980 bei Suhrkamp neu aufgelegt wurde, mußte allerdings die von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle verfaßte Einleitung noch von einer "gegenwärtig so gut wie unbekannte[n] Schrift" sprechen. Fleck wurde in den neunzehnhundertdreißiger Jahren von wissenschaftstheoretischer Seite überhaupt nicht rezipiert. Hans Reichenbach, damals in Istanbul, erwähnt in seinem Experience and Prediction das Buch in einem für Flecks Thema irrelevanten Zusammenhang – immerhin konnte aber Reichenbach nicht vermeiden, den damals freilich absurd klingenden Titel Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache anzuführen und dadurch die Aufmerksamkeit des jungen, damals an der Harvard University forschenden Thomas Kuhn auf das Buch zu lenken. In dem Vorwort des 1962 erschienenen, epochemachenden The Structure of Scientific Revolutions spricht Kuhn von "Ludwik Fleck's almost unknown monograph ..., an essay that anticipates many of my own ideas". Weitere siebzehn Jahre mußten indessen noch vergehen, bis in Flecks Heimatland Polen die ersten, auf dessen wissenschaftsphilosophische Bedeutung hinweisenden Arbeiten erschienen. Flecks Gedanken gelangten also über Cambridge in Massachusetts von Polen nach Polen; der Weg dauerte fast ein halbes Jahrhundert.
Die zweite Geschichte
handelt von dem Sichherausbilden der Erkenntnis, daß es so etwas wie eine
österreichisch-ungarische Kommunikationsphilosophie überhaupt gibt. In
Ungarn waren József Balogh seit den 1940-er Jahren, István Hajnal seit
den 50-er/60-er Jahren weitgehend vergessen; Béla Balázs war bloß als Dramatiker
und Filmkritiker bekannt. Balogh und Hajnal wurden anhand von Walter J.
Ong wiederentdeckt, als man sein Orality and Literacy, 1982 erschienen,
hierzulande zu studieren begann – was Ende der achtziger Jahre geschah.
Zu Balogh bemerkt Ong eigens im Literaturverzeichis: "Very early but still
highly informative." Von Hajnals Schriften beruft er sich auf das 1954
in Budapest auf französisch verlegte Buch über den Schriftunterricht an
den mittelalterlichen Universitäten. Ong war ein Schüler Marshall McLuhans,
und mit dem Erwachen des Interesses am ersteren wuchs in Ungarn erneut
auch das Interesse am letzteren. Man kam – um ganz genau zu sein, meine
Bescheidenheit kam – dazu, auf die Existenz eines McLuhan-Kreises, in den
neunzehnhundertfünfziger Jahren in Toronto, aufmerksam zu werden. In diesem
Kreis wurden sowohl Béla Balázs und István Hajnal als auch Wittgensteins
Philosophische
Untersuchungen gelesen. Der Kreis gab zwischen 1953 und 1959 insgesamt
neun Bände der Zeitschrift Explorations heraus. Vom Band 8 hebe
ich hier zwei Beiträge hervor. Der erste, "Eminent Extrapolators", von
McLuhan verfaßt, bezieht sich auf Wittgenstein und zitiert unter anderem
jene Stelle aus dem Vorwort der Philosophischen Untersuchungen,
die auch ich eingangs anführte und zu deren Rezeptionsgeschichte ich noch
zurückzukehren versprach. "Wittgenstein", schreibt McLuhan, "laments the
fragmentary and discontinuous character imposed by philosophical honesty
today." Es folgt das Wittgenstein-Zitat: "»And this was, of course, connected
with the very nature of the investigation. For this compels us to travel
over a wide field of thought criss-cross in every direction. The philosophical
remarks in this book are, as it were, a number of sketches of landscapes
which were made in the course of these long and involved journeyings.«"
Dem Zitat fügt McLuhan eine erstaunliche – m.E. übrigens richtige – Bemerkung
hinzu: "All that need to be said", schreibt er, "is that Wittgenstein is
here trying to explain the character of oral as opposed to written philosophy."
Zu einer Zeit, wo in Österreich Wittgensteins Spätwerk noch praktisch unbekannt
war und in England schlicht als ordinary language philosophy eingestuft
wurde, konnte dasselbe in Toronto bereits als ein Versuch aufgefaßt werden,
eine Art von Netzwerk kommunikationsphilosophischer Ideen und Überlegungen
zu entwickeln. Der österreichische Hintergrund dieses Versuches fiel allerdings
McLuhan nicht auf; aber auch einem so bedeutenden Sozialwissenschaftler
nicht, wie der Ungar Karl Polanyi – ursprünglich Polányi Károly –, der
Mitglied des Explorations-Kreises war, in den zwanziger Jahren in
Wien lebte, 1933 nach London übersiedelte, und ab 1947 in New York lehrte
und in der Nähe von Toronto wohnte. Anscheinend wurde Polanyi weder in
Wien etwa auf Wittgensteins Tractatus, noch in London auf Wittgensteins
durchaus zugängliches Diktat The Blue and Brown Books aufmerksam,
wohl aber in Toronto auf die 1953 erschienenen Philosophischen Untersuchungen.
Band 8 von Explorations enthält einen Aufsatz von Polanyi, "The
Semantics of Money-Uses", in dem ganz eindeutig Wittgensteins Gebrauchstheorie
der Bedeutung als Hintergrund einer Gebrauchstheorie des Geldwesens dient.
Im McLuhan-Kreis, in den 1950-er Jahren, wurden die verschiedenen Elemente
einer österreichisch-ungarischen Kommunikationsphilosophie zum ersten Mal
zusammengeführt. Gedanken, die in den 1920-er und 30-er Jahren in Budapest
und Wien entstanden sind, gelangten demnach über Toronto nach Budapest;
der Weg dauerte mindestens ein halbes Jahrhundert.
Die dritte Geschichte,
welche also zur Veranschaulichung des Musters Netzwerk in der Fremde
dienen soll, entnehme ich dem im Erscheinen begriffenen Aufsatz "Migrating
Networks: Hungarian Scientists in Exile" meines Kollegen und Freundes Gábor
Palló. Zwei Zitate, das erste von dem deutschen Physiker Walter M. Elsasser,
der sich an die Zeit in Berlin in den 1920-er Jahren erinnert: "Most memorable
was a group of talented Hungarians, all of them entirely or partially of
Jewish descent, but all far from any Jewish tradition. Many appear in the
history of physics: von Neumann, Wigner, Szilard, Orowan and Polanyi, the
first four almost contemporaries, the last a few years older. – Polanyi
had established himself at the research institute in Dahlem, which was
devoted to physical chemistry, and he served as a center of a group that
met in a weekly
seminar."[14] Der
hier erwähnte Polanyi ist der Chemiker und Wissenschaftsphilosoph Michael
Polanyi, ursprünglich Polányi Mihály, jüngerer Bruder des Polányi Károly.
Das zweite Zitat, aus Laura Fermis Illustrious Immigrants, berichtet
über die amerikanische Szene in den frühen 1940-er Jahren: "A saying attributed
to Eugene Wigner and widely circulating among Hungarians puts the matter
in a nutshell: »To be a Hungarian is not all, but it helps, it certainly
helps.« Not only the jokes about themselves and their peculiar traits but
also their great contributions to America single out the Hungarians as
a group. The names of Wigner, Szilard, Teller, and Von Neumann are in all
histories of the wartime atomic project."[15]
Außerhalb von Ungarn lebende ungarische Wissenschaftler, faßt Palló zusammen, bildeten ein Netzwerk sowohl in Berlin als auch in den Vereinigten Staaten. Nicht nur Szilard, Wigner, Neumann und Teller gehörten zu dem Netzwerk, sondern auch viele andere, so nicht zuletzt die Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi, George von Békésy, Dennis Gabor, Georg von Hevesy, aber auch die Mathematiker George Polya und Pál Erdõs. Das Netzwerk, betont Palló, spielte eine wichtige Rolle im Leben der ungarischen Emigranten. Die Mitglieder unterstützten sich gegenseitig sowohl in wissenschaftlichen Fragen als auch, betont, hinsichtlich politischer, intellektueller und persönlicher Probleme, die sich eben aus ihrem Emigrantenstatus ergaben. Wären die Mitglieder dieses Netzwerkes in Ungarn geblieben, hätten sie der wissenschaftlichen Gemeinde ihrer Nation angehört. Das Netzwerk wäre nicht zustande gekommen – und vielleicht auch nicht, füge ich hinzu, die von Erdõs und Rényi geschaffene Mathematik der Netzwerke.
Netzwerke der Wissenden,
Netzwerke des Wissens
Abschließend möchte ich eine kurze Beschreibung des sich im Aufbau befindenden Netzprojekts "Ungarische Virtuelle Enzyklopädie" geben, vorher aber noch andeutungsweise auf zwei Problembereiche hinweisen, mit welchen sich m.E. eine Erkenntnisphilosophie von Netzwerken unbedingt befassen muß. Erstens auf die Perspektive des erkennenden Subjekts, wobei etwa von dem wissenschaftlichen Briefwechsel des Pierre Bayle im siebzehnten Jahrhundert über die insbesondere von Diana Crane analysierten Forschungsnetzwerke des späteren zwanzigsten Jahrhunderts bis zu den von László Babai und eben von Barabási untersuchten Vernetzungen an einer Reihe von Beispielen bewiesen werden kann, daß die überwiegende Mehrzahl von denen, die in den Wissenschaften tätig sind, nicht unmittelbar miteinander, sondern durch die Vermittlung von einzelnen wenigen führenden Gestalten vernetzt sind. Erkenntnismacht ist keineswegs homogen im Netz verteilt.
Diana Crane veröffentlichte
1972 ihr Buch Invisible Colleges: Diffusion of Knowledge in Scientific
Communities. Der Ausdruck "invisible colleges" – der zuerst in der
Boyle–Hartlib Korrespondenz aufzutauchen scheint – bezieht sich auf informelle
Gruppen von wissenschaftlichen Eliten, durch welche die Kommunikation von
Information sowohl innerhalb einer Disziplin als auch Disziplinen überbrückend
erfolgt. Die Mitglieder eines Forschungsfeldes, fand Crane, "were not so
much linked to each other directly but were linked to each other indirectly"
durch die zur Elite gehörenden "highly influential members". Diese renommierten
Gestalten "were surrounded individually by subgroups of scientists who
looked to them for information. They in turn communicated intensively
with one another". Wie Crane unterstreicht, ist es "the central scientists"
durch den "information may be transferred to all other scientists in
the network".[16]
László Babais einschlägige Studie wurde bereits im Zeitalter des elektronischen
Briefes, 1990 verfaßt. "E-mail", meint Babai, "is capable of creating an
ultracompetitive
atmosphere on a much grander scale than any medium before". Das E-Mailen von wichtigen
Forschungsresultaten "may give unprecedented information advantage
to a well chosen, sizable, and consequently extremely powerful elite group.
The group of recipients ... may be fully capable of making rapid advances
before others would even find out that something was happening. Although
such elite groups belong to the very nature of the hierarchy of scientific
research ..., their sheer intellectual force combined with the information
advantage makes them look from outside like an impenetrable fortress."[17]
Zweitens muß in diesem Zusammenhang eine Untersuchung entlang der Dimension des anzueignenden Erkenntnisstoffes erfolgen. Es zeigt sich, daß spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert das menschliche Gesamtwissen, wenn überhaupt, so nur in einer vernetzten Struktur dargestellt werden kann. Das 2001 erschienene Buch von Richard Yeo, Encyclopaedic Visions: Scientific Dictionaries and Scientific Culture[18] bietet eine faszinierende Beschreibung der Bemühungen etwa eines Ephraim Chambers, der in seiner Cyclopaedia nicht bereit war, die begrifflichen Verknüpfungen – "conceptual links" – zwischen den disparat werdenden Disziplinen, und die Querverweise zwischen den einzelnen Stichwörtern, aufzugeben. Es leuchtet ein, daß für solche Bemühungen heute das World Wide Web ein vielversprechendes Medium bietet. In diesem Medium soll die Ungarische Virtuelle Enzyklopädie aufgebaut werden. Virtuelle Lexika sind freilich nichts Neues. Unser Projekt ist indessen in dem Sinne ungewöhnlich, daß wir mit ganz kurzen Stichwörtern arbeiten – ein Stichwort soll nicht den Rahmen eines einzigen Bildschirmes überschreiten – und daß die Links zwischen den einzelnen Stichwörtern voll graphisch dargestellt werden[19] – also nicht nur in einer lokalen Umgebung, wie etwa bei dem deutschen Unterfangen wissen.de. Unser Projekt ist in erster Linie ein wissenschaftsphilosophisches Experiment: inwieweit werden sich bottom-up entwickelte Stichwörter zu einem transdisziplinären Wissensganzen zusammenschließen? In zweiter Linie verkörpert dieses Projekt indessen auch das Bestreben, in Ungarn von Ungarn für Ungarn Inhalte in ungarischer Sprache ins Netz zu stellen. Vielleicht doch ein kleiner Schritt weg vom Peripherie-Schicksal.
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