Wenige Jahre vor seinem Tod 1804 notierte sich Kant zur
Kritik der reinen Vernunft: "Überhaupt ist der Schematismus einer der
schwierigsten Punkte. ... Ich halte dies Capitel für eines der wichtigsten."
[1]
Überraschenderweise gibt es maßgebliche Kommentare, die das Schematismus-Kapitel
überhaupt nicht oder fast nicht behandeln. Zeit- und kulturüberspannend erwähne
ich etwa Ernst Cassirers
Kants Leben und Lehre[2]
und Strawsons The Bounds of Sense,
[3]
1923 bzw. 1966 veröffentlicht. Bei Cassirer kommen die Worte "Schema",
"Schemata" und "schematisiert" je einmal vor,
[4]
aber kein einziges Mal in der von Kant diesen Ausdrücken verliehenen
spezifischen Bedeutung.
[5]
Strawson erwähnt zwar die "berühmte Passage genannt der Schematismus"
[6], widmet dem Thema aber nicht mehr als insgesamt 20 Zeilen. "[T]o
appreciate the actual significance of the categories in application to
experience", schreibt Strawson im einleitenden Teil seines Buches, "we must
interpret the pure categories in terms of the general form of sensible
intuition. This is the role of the Schematism, which makes the transition from
pure categories to categories-in-use by interpreting the former in terms of
time."
[7] Im weiteren kommt Strawson noch viermal auf den
Schematismus-Begriff zu sprechen, es ist aber immer nur diese eine Formel, die
er, kürzer gefaßt, wiederholt.
[8]
Demgegenüber veröffentlichte
der namhafte Kant-Experte W. H. Walsh bereits 1957 in den
Kant-Studien
eigens einen Aufsatz zum Thema.
[9]
Zwar meint Walsh, daß das Schematismus-Kapitel "dem nicht festgelegten, aber
wohlwollenden Leser wahrscheinlich mehr Schwierigkeiten verursacht als irgendein
anderer Teil der Kritik der reinen Vernunft", wobei, wie er sich ausdrückt,
nicht nur die Details des Gedankenganges "höchst undurchsichtig" sind, sondern
es "in einfachen Worten schwierig zu sagen ist, welchen allgemeinen Punkt Kant
zu beweisen versucht",
[10] dennoch betont er, daß sich "Kants philosophisches Genie" eben
in diesen Abschnitten am klarsten zeigt, und daß das hier behandelte Thema
"getrost als das zentrale Problem der ganzen
Kritik betrachtet werden
kann".
[11] Wilfrid Sellars, ein führender amerikanischer
sprachanalytischer Philosoph in den
neunzehnhundertfünfziger–neunzehnhundertachtziger Jahren, der zeitlebens als
moderner Kantianer auftrat, betonte in seinem 1975/1976 gehaltenen Kant-Seminar,
daß "der
Schematismus das Bindeglied ist zwischen der sehr abstrakten
Argumentation der
Deduktion und den spezifischen Grundsätzen, entwickelt
in der
Analytik der Grundsätze, die durch den
Schematismus
eingeführt werden: der
Schematismus spielt eine sehr wichtige Rolle".
[12] Und in der Tat erstreckt sich die Diskussion der
Schematismus-Problematik im Nachlaßband
Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures
by Wilfrid Sellars über auffallend viele Seiten.
Zur deutschsprachigen Literatur
zurückkehrend: In seinem 1995 erschienenen Werk
Sinnkriterien bezeichnet
Stekeler-Weithofer
[13] "das Verständnis der transzendentalen Apperzeption und des
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" als den "Dreh- und Angelpunkt für
die Entscheidung, in welcher Perspektive man Kants Kritik der reinen Vernunft
deutet" und liefert selbst wichtige Gesichtspunkte zu einem solchen Verständnis.
In dem von Röttgers mitherausgegebenen Band
Perspektive in Literatur und
bildender Kunst[14] veröffentlichte Steffen Dietzsch einen hochinteressanten
Aufsatz unter dem Titel "Schema & Bild", in welchem er sich auch auf
wichtige Vorarbeiten etwa von Hans Lenk,
[15] Friedrich Kaulbach
[16] und nicht zuletzt von Helmuth Plessner berufen konnte. In
seinem Buch
Philosophische Anthropologie spricht Plessner von der "durch
Kants Autorität sanktionierten Wissenschaftslehre und ihr Herzstück im
Schematismuskapitel"
[17]; in seiner Frühschrift aus dem Jahre 1923,
Kants System
unter dem Gesichtspunkt einer Erkenntnistheorie der Philosophie, hatte er ja
auch einen tiefschürfenden Abschnitt dem Thema gewidmet.
[18] Und 1929 erschien die wohl anspruchsvollste Analyse zum
Schematismus-Problem, nämlich Heideggers
Kant und das Problem der
Metaphysik. Wie Heidegger hier schreibt: Jene "elf Seiten der Kritik der
reinen Vernunft", die das Schematismuskapitel bilden, "machen ...
das
Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes [aus]". Es besteht auch, fährt
Heidegger fort, "nicht die geringste Veranlassung, über eine Uneinheitlichkeit
und Verworrenheit des Schematismuskapitels immer wieder Klage zu führen. Wenn
etwas in der Kritik der reinen Vernunft aufs schärfste durchgegliedert und in
jedem Wort abgemessen ist, dann gilt das von diesem Kernstück des ganzen Werkes.
... Das Schematismuskapitel ist nicht 'verwirrt', sondern unvergleichlich
durchsichtig gebaut. Das Schematismuskapitel ist nicht 'verwirrend', sondern
führt mit einer unerhörten Sicherheit in den Kern der ganzen Problematik der
Kritik der reinen Vernunft."
[19]
Trotz der obigen Erklärung Heideggers, und trotz der
Tatsache, daß er an der angeführten Stelle seiner Schrift sogar einen keineswegs
unüberzeugenden Gliederungsvorschlag zum Schematismus-Kapitel bietet, bekenne
ich mich zur Auffassung, daß dasselbe von gar manchen Unklarheiten behaftet und
durchaus interpretationsbedürftig ist. Ich werde im Laufe meines Vortrages die
Umrisse einer möglichen Interpretation zu skizzieren versuchen, zunächst heißt
es aber, überhaupt die Schematismus-Problematik vorzustellen. Irgendwelche
Zusammenfassung des Kapitels anzustreben würde ich für ein grundsätzlich
verfehltes Unterfangen halten; statt dessen versammele ich hier einige,
teilweise auch längere, aus der Perspektive meines besonderen
Interpretationsversuches ausgewählte Passagen. Wir wollen gleich mit den ersten
Zeilen des Kapitels beginnen:
In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß
die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein, d. i.
der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden
Gegenstande vorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein
Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten. So hat der empirische
Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen eines Zirkels
Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren gedacht wird, sich im
letzteren anschauen läßt. (A 137)
Ich hebe hier den Kontrast gedachte Rundung /
angeschaute Rundung hervor. – Kant fährt nun mit der Beobachtung fort,
daß – im Gegensatz zu den empirischen Begriffen – reine Verstandesbegriffe, wie
etwa die Kategorie der Kausalität, unmittelbar sich überhaupt nicht auf
sinnliche Anschauungen anwenden lassen. Es müsse daher "ein Drittes"
geben,
was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung
in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte
möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische)
und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein.
Eine solche ist das transzendentale Schema. (A 138)
Das transzendentale Schema, erklärt hier Kant, verbindet
mittels der Zeit – als "transzendentaler Zeitbestimmung" – die reinen
Verstandesbegriffe mit den Erscheinungen. Diese Erklärung wird etwas später
detaillierter fortgesetzt, vorerst macht sich indessen eine eigenartige Wende
des Gedankenganges bemerkbar, indem neben dem Begriff des transzendentalen nun
auch der eines gleichsam sinnlichen Schemas auftritt, und in diesem Zusammenhang
das Wort Bild zur Sprache kommt:
Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der
Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne
Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur
Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich
fünf Punkte hintereinander setze, . . . . . ist dieses ein Bild von der Zahl
Fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun Fünf oder
Hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode,
einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge ... in einem Bilde vorzustellen, als
dieses Bild selbst... Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren
der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das
Schema zu diesem Begriffe. (A 140)
Worauf dann noch die unverkennbare Anspielung auf die
Locke–Berkeleysche Kontroverse folgt:
In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder
der Gegenstände, sondern Schemata zugrunde. Dem Begriffe von einem Triangel
überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die
Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle,
recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser
Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als
in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der
Einbildungskraft... (A 140–141)
Es ist das Verhältnis vom
bildlichen Denken zum begrifflichen Denken, das eines der sich im
Hintergrund des Schematismus-Kapitels befindenden Probleme, ja m. E. vielleicht
das wichtigste dieser Probleme darstellt. Bildliches Denken ist freilich nicht
bloß seit Locke und Berkeley ein Thema der Philosophie. Die Geschichte beginnt
spätestens bei Platon.
Von Platon zu Hume
Diese Geschichte kann hier eben nur angedeutet werden. Bei
Platon gehört selbstverständlich der immer wieder zweideutige Einsatz des
schillernden Wortes
idea dazu, welches doch Begriff meint, indessen
"Gestalt"
sagt; aber auch der bekannte Hinweis im
Philebos auf den
"Maler, der nächst dem Schreiber des Gesprochenen die Bilder davon in der Seele
zeichnet". Bei der Aristoteles-Schule einerseits der Vergleich vom Geist als
einer
Schreibtafel, andererseits aber die klassische Lehre von den
phantasmata: "Vorstellungsbilder", ohne welche "die Seele nie ... denkt",
die "für die Denkseele ... wie Wahrnehmungsbilder" sind.
[20] Im Denken tritt derselbe Affekt –
pathos – auf "wie
auch beim Zeichnen eines Diagramms". Und
Gedächtnis ist "der Besitz einer
Vorstellung als Abbild –
eikon – dessen, wovon es die Vorstellung ist".
[21] In Anlehnung an die Aristoteles-Schule schrieb dann Bacon:
"Emblem reduceth conceits intellectual to images sensible, which strike the
memory more. ... Aristotle saith well, 'Words are the images of cogitations, and
letters are the images of words.' But yet it is not of necessity that
cogitations be expressed by the medium of words. For whatsoever is capable of
sufficient differences, and those perceptible by the sense, is in nature
competent to express cogitations."
[22] Es ist auch durchaus im Sinne von Bacon, wenn Locke über die
Vorzüge eines Wörterbuchs nachdenkt, in welchem "words standing for things which
are known and distinguished by their outward shapes [w]ould be expressed by
little draughts and prints made of them".
[23] Lockes eigentlicher Beitrag zur Philosophie des bildlichen
Denkens besteht natürlich in seiner – keineswegs immer eindeutigen –
Gleichsetzung von Ideen mit mentalen Bildern, so etwa im Abschnitt über
Abstraktion, wo es ja heißt: "ideas taken from particular beings become
general representatives of all of the same kind; and their names general names,
applicable to whatever exists conformable to such abstract ideas. Such precise,
naked appearances in the mind … the understanding lays up (with names commonly
annexed to them) as the standards to rank real existences into sorts."
[24]Die Wörter "idea", "conception", "thought" und "imagination"
sind für Locke meistens gleichbedeutend.
[25] Für Berkeley und Hume war es ganz und gar keine Frage, daß
Ideen mentale Bilder sind; bekanntlich erblickten sie das Problem vielmehr
darin, wie denn Bilder Träger von
allgemeinen Bedeutungen sein können.
Berkeley neigte dazu, das Problem für unlösbar zu halten; Hume meinte, eine
Lösung gefunden zu haben.
Im Laufe des zwanzigsten
Jahrhunderts ist eine Reihe von Werken entstanden, welche die
Locke–Berkeley–Hume'sche Diskussion aus der Perspektive einer ganz bestimmten
Auffassung analysierten. Laut dieser Auffassung, die bis zum letzten Viertel des
Jahrhunderts, nämlich bis zum Aufkommen der kognitiven Psychologie die
Auffassung einer mißachteten Minderheit geblieben ist, spielen geistige Bilder
in unserem Denken eine wesentliche Rolle, und zwar müssen sich diese Bilder
nicht ausschließlich auf das Konkrete und Einzelne beziehen, sondern können
durchaus auch
generische Bilder sein. Ich führe hier die Vorlesungen von
Titchener aus dem Jahre 1909 an,
Lectures on the Experimental Psychology of
the Thought-Processes;
[26] das 1953 erschienene Buch von H. H. Price,
Thinking and
Experience;
[27] und Rudolf Arnheims
Visual Thinking, 1969
veröffentlicht.
[28] Titchener konnte sich noch auf eine breite angelsächsische,
französische und deutsche psychologische und philosophische Literatur der
Jahrhundertwende berufen, Arnheim mußte indessen im wesentlichen auf Titchener
zurückgreifen und blieb selbst bis in die neunzehnhundertneunziger Jahre ohne
Wirkung. Auf das Buch des Oxforder Philosophen Price weist Arnheim nicht hin;
dasselbe ist noch heute weitgehend unbekannt. Zu unserem jetzigen Thema äußert
sich Price folgendermaßen: "both Locke and Kant were talking about generic
images, though they did not know it; and Hume was on the verge of talking about
them, though he did not, of course, know it either".
[29]
Kants verkappte Psychologie
Die Argumentationen einerseits von Titchener und Arnheim und
andererseits von Price in bezug auf generische Bilder weisen wesentliche
Parallelen auf. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung, daß generische Bilder durch
eine Art Unvollständigkeit charakterisiert sind. Titchener ist subjektiv
überzeugend, Price ist begrifflich brillant, Arnheim ist anregend – nicht
zuletzt, weil er durch Illustrationen auch zu
zeigen versucht, was die
anderen bloß
sagen. Ihre Analysen bieten einen fruchtbaren heuristischen
Hintergrund zum Verständnis sowohl der Kantschen Schematismus-Problematik als
auch der vermutlichen Ursache von der verhältnismäßigen Verworrenheit des
Schematismus-Kapitels. Ich werde auf diesen Punkt sogleich zurückkommen; vorerst
möchte ich aber kurz andeuten, warum diese Analysen doch nicht als unmittelbare
Kommentare zu Kant aufgefaßt bzw. eingesetzt werden können. Der Grund liegt bei
Kant, des näheren bei der Zwitterstellung der Transzendentalphilosophie zwischen
Psychologie und Begriffsanalyse. In seinem
The Bounds of Sense weist
Strawson immer wieder auf diese Zwitterstellung hin.
[30] Kant, meint Strawson, hat den Bezugsrahmen verfehlt, in
welchem er seine Untersuchungen wohlfundiert hätte ausführen können, er
erblickte nicht, was zwei Jahrhunderte später Wittgenstein entdeckte, nämlich
"den
sozialen Charakter unserer Begriffe, die Zusammenhänge zwischen
Denken und Sprache, Sprache und Kommunikation, Kommunikation und sozialen
Gemeinschaften".
[31] Stekeler-Weithofer wählt da ein anderes Deutungsvorgehen. Zwar
gibt er zu, daß man "Kant ... vorwerfen [kann], [den] Zusammenhang zwischen
subjektivem, einzahligem Ich und Sprach-Gemeinschaft nicht gesehen zu haben",
ist aber nichtsdestotrotz der Auffassung: "Eine angemessene Interpretation der
kantischen Terminologie macht deutlich, daß der Zusammenhang von Wahrnehmung,
Anschauung und Denken ein sprachlogischer, nicht psychologischer Zusammenhang
ist." In diesem Sinne formuliert er dann auch folgende Zusammenfassung: "Wenn
Kant von der
'transzendentalen' Einheit der Apperzeption spricht,
verweist er ... auf die
allgemeine Rolle des Sprechers, der die ...
aktuellen Wahrnehmungen, Anschauungen und Erfahrungen (laut oder leise)
sprachlich kommentiert, als diese oder jene (generische) Wahrnehmung, Anschauung
oder Erfahrung erkennt und von anderen, bloß möglichen, unterscheidet. Qua
Rolle verweist der Sprecher auf die allgemeine Sprach- und
Erkenntnis
gemeinschaft, welcher er angehört." Und ein Hinweis einige
Zeilen später: "Wahrnehmungen qua Schemata (Typen) sind ... nur soweit distinkt
und klar, wie sie uns jedenfalls
prinzipiell als gemeinsame zur Verfügung
stehen."
[32] Das ist eine radikale Deutung. Kant erscheint hier in
Wittgensteinscher, ja in Sellarsscher Verkleidung. Ich wünschte, ich könnte
dieser Verkleidung trauen. Ich kann das aber nicht, denn hinter den gemütlichen
sprachphilosophischen Klamotten wird unverkennbar der Panzer des
erkenntnistheoretischen Absolutisten sichtbar. Wie Röttgers in seinem Buch
Metabasis hervorhebt, hielt ja Kant durchaus daran fest, daß es "so etwas
wie einen 'allgemeinen und wahren Horizont' geben könne, 'der aus dem Standpunkt
des höchsten Begriffs bestimmt wird'".
[33] Wenn aber Kant die Voraussetzungen der Allgemeingültigkeit
unserer Erkenntnisse begründen wollte, konnte er sich nicht auf den jeweiligen
kognitiven Konsens einer Sprachgemeinschaft verlassen. Ich muß hier Hans Lenk
zustimmen, sowohl der Bemerkung, die er im Laufe seiner Erläuterung des
Kantschen Schematismus-Begriffes macht, wonach man nämlich Kant gegenüber heute
die Freiheit und Biegsamkeit der wissenschaftlichen Theoriebildung hervorheben
müsse, als auch dem Hinweis, daß Kants Zeitgenossen Herder und Lichtenberg,
nicht aber Kant selbst an der "fundierenden Rolle" der Sprache glaubten.
[34]
Zur Deutung des Schematismus-Kapitels
Wörter und Bilder
Laut der heutigen kognitiven Psychologie setzen Denken,
Erinnerung und Erkenntnis das Zusammenwirken einerseits von verbalen,
andererseits von perzeptuellen Prozessen voraus.
[35] In Kants verkappter Psychologie durften indessen Bilder
ebensowenig eine Rolle spielen wie die Sprache. Der Hinweis in der
Kritik der
Urteilskraft auf die Regierungen, welche "gerne erlaubt" haben, die Religion
mit "Bildern und kindischem Apparat" reichlich zu versorgen, um dadurch die
"Seelenkräfte" der Untertanen einzuschränken,
[36] ist unmißverständlich. Allgemeingültige Wahrheiten ließen sich
weder aus dem Stoff der verbalen noch aus dem der visuellen Erfahrung aufbauen.
Es gibt allerdings auch einen zweiten Grund dafür, daß in der anspruchsvollen
Logik der Kantschen Beweisführung der Begriff von Bildern kaum zum Wort kommen
kann: nämlich überhaupt das Fehlen einer entsprechenden Logik der Bilder zu
Kants Zeiten. Und diese Logik fehlte freilich, weil ja eine geeignete
Technologie für die Erzeugung und Handhabung von Bildern ebenfalls nicht zur
Verfügung stand. Das Problem indessen, das Kant im Schematismus-Kapitel
beschäftigte, konnte ohne einen ausgearbeiteten Bildbegriff schlechthin nicht
formuliert werden. Kein Wunder also, wenn dieses Kapitel einen etwas verworrenen
Eindruck macht.
Vorbildliche Interpreten
Daß das Schematismus-Problem in erster Linie eine Problematik
von
Bildern ist, wurde bis heute von wenigen Interpreten bemerkt.
Stekeler-Weithofer gehört zu den wenigen,
[37] wie auch Hans Lenk.
[38] Der Interpret aber, den ich hier besonders hervorheben möchte,
ist Heidegger. Er war es, der zuerst und am eindringlichsten zeigte, daß die
Schematismus-Problematik zugleich eine Bild-Problematik ist,
[39] wo "Bild" unter anderem auch ganz unmittelbar "Abbild"
bedeutet, "Abbild" etwa im Sinne einer Photographie oder einer Totenmaske.
Abbilde können aber zeigen, betont Heidegger, "wie etwas 'im allgemeinen'
aussieht, in dem Einen, was für viele gilt".
[40] Heidegger, der den Anspruch auf allgemeingültige Wahrheiten
aufgibt
[41] und sich – als erster nach Nietzsche – vom Bann der abstrakten
Schriftsprache befreit,
[42] ist imstande, die Kantsche Schematismus-Problematik im rechten
Licht zu deuten.
Blinde Interpreten
Von denen, die zu einer solchen Deutung nicht imstande sind,
erwähne ich hier Strawson und Sellars. Weder bei Strawson noch bei Sellars kommt
überhaupt das Wort "Bild" in bezug auf die Schematismus-Problematik vor, wobei
doch Kant selbst im Schematismus-Kapitel dieses Wort oft benützt. Den Fall
Sellars finde ich besonders verblüffend. Denn erstens hat Sellars durchaus einen
Sinn für Bilder. Wie dies anhand des Bandes
Kant and Pre-Kantian Themes:
Lectures by Wilfrid Sellars[43] klar wird, zeichnete er während seiner Lehrveranstaltungen
leidenschaftlich gerne Bilder und Diagramme zur Erklärung philosophischer
Probleme. Zweitens hatte Sellars ja bereits in den 1950er Jahren einen
theoretischen Rahmen entwickelt, innerhalb dessen insbesondere das Thema
mentale Bilder philosophisch tiefschürfend hätte analysiert werden
können. In seinem klassischen Aufsatz "Empiricism and the Philosophy of Mind"
machte Sellars den Vorschlag, mentale Episoden als
theoretische
Konstrukte aufzufassen, nämlich als von einer vorwissenschaftlichen Theorie
nach dem Modell öffentlicher sprachlicher Episoden postulierte Entitäten. Dieser
Vorschlag erstreckte sich aber nicht auf
visuelle Episoden – "bildliche
Vorstellung"
[44] bedeutet für Sellars
verbal imagery schlechthin.
Nachsicht
Dabei bestand innerhalb der kognitiven Psychologie der
philosophisch-methodologische Durchbruch von Allan Paivio eben darin, mentale
Bilder als "postulierte Prozesse", "theoretische Konstrukte", "inferentielle
Begriffe", d. h. als im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie vorausgesetzte
Entitäten bzw. Ereignisse aufzufassen, die an sich nicht beobachtbar sind,
jedoch beobachtbare Aspekte bzw. Folgen haben. Introspektives Erleben visueller
Vorstellungen einerseits und objektives Erfassen neuraler Erscheinungen
andererseits sind verschiedenartige empirische Beobachtungen, die sich auf das
einheitliche theoretische Konstrukt "mentales Bild" beziehen. In seinem unlängst
verfaßten Aufsatz "Kant and Cognitive Science" schreibt Andrew Brook
[45] diese Lösung bereits Kant zu, und gibt damit der
transzendentalphilosophischen Methode eine äußerst glückliche Deutung. Kants
Methode, meint Brook, "[was to] postulate unobservable mental mechanisms to
explain observed".
[46] Wichtig ist auch Brooks folgende Beobachtung: "Kant’s model of
the mind was the dominant model in the 19th century empirical psychology that
flowed from his work (Herbart, Helmholtz, Wundt) and then again, after a hiatus
during which behaviourism reigned supreme (roughly 1910 to 1965), toward the end
of the 20th century, especially in cognitive science." Die Dominanz des
sprachzentrischen Behaviourismus auch in der Philosophie: Hier haben wir wohl
die Erklärung für die vorübergehende Blindheit der Interpreten in bezug auf
Kants Schematismus-Thema.
ANMERKUNGEN
- [1] Kants handschriftlicher Nachlaß (Ges. Schriften,
herausgegeben von der Preuß. Akad. d. Wissenschaften, 1928, Bd. III/5), Nr.
6359,hier zitiert nach Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik
(1929), Frankfurt/M.: Klostermann, 1998, S. 113.
- [2] Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin: Bruno
Cassirer, 1923.
- [3] P. F. Strawson, The Bounds of Sense: An Essay on Kant's
Critique of Pure Reason (1966), London: Routledge, 2004. Deutsche Übersetzung:
Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns: Ein Kommentar zu Kants Kritik
der reinen Vernunft, Frankfurt/M.: Anton Hain, 1992.
- [4] Vgl. a. a. O., S. 150, 204 und 229.
- [5] Die Stelle auf S. 150 könnte ein Grenzfall sein. Cassirer
schreibt hier über Kants "Sorge um die Festigkeit und Bestimmtheit der
Terminologie, um die Genauigkeit in den Begriffsbestimmungen und
Begriffseinteilungen, um die Übereinstimmung und den Parallelismus der
Schemata". Ich bin mir nicht sicher, ob sich hier "Schemata" auf die im
Kapitel "Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" behandelten
Schematen ("das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen", A 140), oder
allgemeiner auf die von Kant eingeführten begrifflichen Schemen bezieht.
- [6] Deutsche Ausgabe, S. 24.
- [7] The Bounds of Sense, S. 30 f. – Die deutsche
Übersetzung, S. 25, ist an dieser Stelle etwas irreführend: "[U]m die
tatsächliche Bedeutung der Kategorien in ihrer Anwendung auf die Erfahrung
wahrzunehmen, [müssen wir] die Kategorien in Begriffen der allgemeinen Form
sinnlicher Anschauung interpretieren. ... Die Rolle dieser Interpretation
übernimmt der Schematismus. Er macht den Übergang von reinen Kategorien zu
Kategorien-in-Gebrauch, indem er die ersteren in Begriffen der Zeit
interpretiert." Strawsons "in terms of the general form of sensible intuition"
bzw. "in terms of time" dürfte hier besser als "unter dem Aspekt der
allgemeinen Form sinnlicher Anschauung" bzw. "unter dem Aspekt der Zeit"
übersetzt werden.
- [8] Vgl. deutsche Ausgabe, S. 65, 72, 75, 230.
- [9] W. H. Walsh, "Schematism", Kant-Studien, Bd. 49 (1957).
Neu abgedruckt in Robert Paul Wolff (Hrsg.), Kant: A Collection of Critical
Essays, London: Macmillan, 1968.
- [10] "The chapter on Schematism probably presents more difficulty
to the uncommitted but sympathetic reader than any other part of the
Critique of Pure Reason. Not only are the details of the argument
highly obscure ...: it is hard to say in plain terms what general point or
points Kant is seeking to establish", Wolff (Hrsg.), S. 71.
- [11] Ebd., S. 74.
- [12] Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures by Wilfrid
Sellars, herausgegeben von Pedro Amaral, Atascadero, CA: Ridgeview, 2002,
S. 67: "the Schematism is the link between the very abstract argument
of the Deduction and the specific principles, developed in the
Analytic of Principles, that are introduced by the Schematism:
the Schematism plays a very important role".
- [13] Pirmin Stekeler-Weithofer, Sinnkriterien: Die logischen
Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn:
Schöningh, 1995.
- [14] Kurt Röttgers – Monika Schmitz-Emans, Hrsg., Perspektive
in Literatur und bildender Kunst, Essen: Die Blaue Eule, 1999.
- [15] Hans Lenk, Schemaspiele: Über Schemainterpretationen und
Interpretationskonstrukte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995.
- [16] Dietzsch führt Kaulbachs Aufsatz "Schema, Bild und Modell
nach den Voraussetzungen des Kantischen Denkens" an (erschienen in G. Prauss,
Hrsg., Kant: Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln:
Kiepenheuer & Witsch, 1973), zu erwähnen ist aber auch Kaulbachs
Immanuel Kant, Berlin: de Gruyter, 1982.
- [17] Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt/M.:
Fischer Verlag, 1970, S. 204.
- [18] Unter dem Titel "Schematik und Symbolik". Siehe Helmuth
Plessner, Frühe philosophische Schriften, Bd. 2 (Gesammelte
Schriften II), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 424–426.
- [19] Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik,
S. 89 und 112 f.
- [20] Aristoteles, De anima, 430a und 431a. Hier zitiert
nach Aristoteles, Über die Seele, übersetzt von Willy Theiler, Berlin:
Akademie Verlag, 1986, S. 59 und 69.
- [21] Aristoteles, De memoria et reminiscentia, 450a und
451a, vgl. Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung, übersetzt von
R. A. H. King, Berlin: Akademie Verlag, 2004, S. 14 und 16. – Im Hinblick auf
Kants Schematismus-Begriff dürfte auch folgende Stelle von De memoria
nicht uninteressant sein: Es ist "nicht möglich ..., etwas ... was nicht in
der Zeit ist, ohne Zeit [zu denken]. ... Ausdehnung und Bewegung [ist]
notwendigerweise mit dem zu erkennen, womit auch die Zeit", ebd. S. 14.
- [22] Francis Bacon, The Advancement of Learning (1605),
Oxford: Clarendon Press, 1974, S. 130 f. Bacons Hinweis bezieht sich auf De
interpretatione.
- [23] John Locke, An Essay Concerning Human Understanding,
Buch III, Kap. XI, Abschn. 25.
- [24] Ebd., Buch II, Kap. XI, Abschn. 9.
- [25] Vgl. etwa Buch III, Kap. II, Abschn. 6.
- [26] Edward Bradford Titchener, Lectures on the Experimental
Psychology of the Thought-Processes, New York: Macmillan, 1909.
- [27] H. H. Price, Thinking and Experience. London:
Hutchinson's Universal Library, 1953.
- [28] Rudolf Arnheim, Visual Thinking, Berkeley: University
of California Press, 1969.
- [29] Price, a. a. O., S. 292.
- [30] Wie Strawson zusammenfassend schreibt: "Es ist ein
Gemeinplatz sowohl der alltäglichen als auch der wissenschaftlichen
Beobachtung, daß der Charakter unserer Erfahrung, die Weise, in der uns die
Dinge erscheinen, teilweise durch unsere humane Konstitution, durch die Natur
unserer Sinnesorgane und unseres Nervensystems bestimmt ist. Das Funktionieren
des menschlichen Wahrnehmungsmechanismus und die Weise, in der unsere
Erfahrung von diesem Funktionieren kausal abhängig ist, sind Gegenstände
empirischer oder wissenschaftlicher, nicht philosophischer Erforschung. Kant
war sich dessen wohl bewußt; er wußte sehr wohl, daß eine solche empirische
Untersuchung ganz verschieden war von der von ihm vorgeschlagenen Untersuchung
der fundamentalen Struktur von Gedanken, durch die allein wir uns den Gedanken
der Erfahrung der Welt einsichtig machen können. Trotz dieses Wissens jedoch
verstand er eine Untersuchung des zuletzt genannten Typs in einer Art
gezwungener Analogie zu einer Untersuchung des zuerst genannten Typs. Wo immer
er begrenzende oder notwendige allgemeine Züge der Erfahrung fand, behauptete
er, ihre Quelle liege in unserer kognitiven Konstitution. Diese Lehre schien
ihm unentbehrlich zur Erklärung der Möglichkeit eines Wissens von der
notwendigen Struktur der Erfahrung. Es gibt gleichwohl keinen Zweifel daran,
daß diese Lehre in sich inkohärent ist und den wahren Charakter der
Untersuchung eher verschleiert als erklärt: so daß das zentrale Problem für
ein Verständnis der Kritik genau dies ist, alles, was mit dieser Lehre
zusammenhängt, zu lösen von dem analytischen Argument, das tatsächlich von ihr
unabhängig ist" (Die Grenzen des Sinns, S. 12).
- [31] Die Grenzen des Sinns, S. 128.
- [32] Sinnkriterien, S. 184 f.
- [33] Kurt Röttgers, Metabasis: Philosophie der Übergänge,
Magdeburg: Scriptum Verlag, 2002, S. 119 f. Der Hinweis bezieht sich auf A
659.
- [34] Schemaspiele, S. 18 f. und 20 ff.
- [35] Vgl. insb. Allan Paivio, Imagery and Verbal Processes,
New York: Holt, Rinehart and Winston, 1971.
- [36] Kritik der Urteilskraft, § 29.
- [37] Vgl. etwa Sinnkriterien, S. 189.
- [38] Siehe Schemaspiele, S. 16 ff.
- [39] Kant und das Problem der Metaphysik, S. 90–108.
- [40] Ebd., S. 94.
- [41] Vgl. etwa die "Davoser Disputation", im Band Kant und das
Problem der Metaphysik, zitierte Ausgabe, S. 277 f. und 281 f.
- [42] Vgl. meine Aufsätze "Heidegger und Wittgenstein", in I. M.
Fehér, Hrsg., Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers
Werk, Berlin: Duncker & Humblot, 1991, S. 71–83, und "Post-Literacy as
a Source of Twentieth-Century Philosophy", Synthese 2002/2, S. 185–199.
- [43] Vgl. Anm. 12.
- [44] Wilfrid Sellars, "Der Empirismus und die Philosophie des
Geistes", in Peter Bieri, Hrsg., Analytische Philosophie des Geistes,
Königstein/Ts.: Hain, 1981, S. 193.
- [45] Andrew Brook, "Kant and Cognitive Science" (2004), digitale
Veröffentlichung, http://www.carleton.ca/~abrook/KNT-CGSC.htm.
- [46] Bemerkenswert finde ich, daß Brook in seiner Bibliographie
auch auf Sellars hinweist.