Vortrag gehalten im Rahmen der Konferenz KANT UND DAS PROBLEM DES WISSENS,
Pécs (Fünfkirchen), Ungarn, 21. Sept. 2004
Vorläufige, noch vielfach zu ergänzende Fassung
© Kristóf Nyíri 2004

Kristóf Nyíri:


 

Kritik des reinen Bildes

Anschauung, Begriff, Schema

Voraussicht
Schematismus-Kapitel: Einblicke
Von Platon zu Hume
Kants verkappte Psychologie
Zur Deutung des Schematismus-Kapitels
    Wörter und Bilder
    Vorbildliche Interpreten
    Blinde Interpreten
Nachsicht


 

Voraussicht

 

Wenige Jahre vor seinem Tod 1804 notierte sich Kant zur Kritik der reinen Vernunft: "Überhaupt ist der Schematismus einer der schwierigsten Punkte. ... Ich halte dies Capitel für eines der wichtigsten."[1] Überraschenderweise gibt es maßgebliche Kommentare, die das Schematismus-Kapitel überhaupt nicht oder fast nicht behandeln. Zeit- und kulturüberspannend erwähne ich etwa Ernst Cassirers Kants Leben und Lehre[2] und Strawsons The Bounds of Sense,[3] 1923 bzw. 1966 veröffentlicht. Bei Cassirer kommen die Worte "Schema", "Schemata" und "schematisiert" je einmal vor,[4] aber kein einziges Mal in der von Kant diesen Ausdrücken verliehenen spezifischen Bedeutung.[5] Strawson erwähnt zwar die "berühmte Passage genannt der Schematismus"[6], widmet dem Thema aber nicht mehr als insgesamt 20 Zeilen. "[T]o appreciate the actual significance of the categories in application to experience", schreibt Strawson im einleitenden Teil seines Buches, "we must interpret the pure categories in terms of the general form of sensible intuition. This is the role of the Schematism, which makes the transition from pure categories to categories-in-use by interpreting the former in terms of time."[7] Im weiteren kommt Strawson noch viermal auf den Schematismus-Begriff zu sprechen, es ist aber immer nur diese eine Formel, die er, kürzer gefaßt, wiederholt.[8]
     Demgegenüber veröffentlichte der namhafte Kant-Experte W. H. Walsh bereits 1957 in den Kant-Studien eigens einen Aufsatz zum Thema.[9] Zwar meint Walsh, daß das Schematismus-Kapitel "dem nicht festgelegten, aber wohlwollenden Leser wahrscheinlich mehr Schwierigkeiten verursacht als irgendein anderer Teil der Kritik der reinen Vernunft", wobei, wie er sich ausdrückt, nicht nur die Details des Gedankenganges "höchst undurchsichtig" sind, sondern es "in einfachen Worten schwierig zu sagen ist, welchen allgemeinen Punkt Kant zu beweisen versucht",[10] dennoch betont er, daß sich "Kants philosophisches Genie" eben in diesen Abschnitten am klarsten zeigt, und daß das hier behandelte Thema "getrost als das zentrale Problem der ganzen Kritik betrachtet werden kann".[11] Wilfrid Sellars, ein führender amerikanischer sprachanalytischer Philosoph in den neunzehnhundertfünfziger–neunzehnhundertachtziger Jahren, der zeitlebens als moderner Kantianer auftrat, betonte in seinem 1975/1976 gehaltenen Kant-Seminar, daß "der Schematismus das Bindeglied ist zwischen der sehr abstrakten Argumentation der Deduktion und den spezifischen Grundsätzen, entwickelt in der Analytik der Grundsätze, die durch den Schematismus eingeführt werden: der Schematismus spielt eine sehr wichtige Rolle".[12] Und in der Tat erstreckt sich die Diskussion der Schematismus-Problematik im Nachlaßband Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures by Wilfrid Sellars über auffallend viele Seiten.
     Zur deutschsprachigen Literatur zurückkehrend: In seinem 1995 erschienenen Werk Sinnkriterien bezeichnet Stekeler-Weithofer[13] "das Verständnis der transzendentalen Apperzeption und des Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" als den "Dreh- und Angelpunkt für die Entscheidung, in welcher Perspektive man Kants Kritik der reinen Vernunft deutet" und liefert selbst wichtige Gesichtspunkte zu einem solchen Verständnis. In dem von Röttgers mitherausgegebenen Band Perspektive in Literatur und bildender Kunst[14] veröffentlichte Steffen Dietzsch einen hochinteressanten Aufsatz unter dem Titel "Schema & Bild", in welchem er sich auch auf wichtige Vorarbeiten etwa von Hans Lenk,[15] Friedrich Kaulbach[16] und nicht zuletzt von Helmuth Plessner berufen konnte. In seinem Buch Philosophische Anthropologie spricht Plessner von der "durch Kants Autorität sanktionierten Wissenschaftslehre und ihr Herzstück im Schematismuskapitel"[17]; in seiner Frühschrift aus dem Jahre 1923, Kants System unter dem Gesichtspunkt einer Erkenntnistheorie der Philosophie, hatte er ja auch einen tiefschürfenden Abschnitt dem Thema gewidmet.[18] Und 1929 erschien die wohl anspruchsvollste Analyse zum Schematismus-Problem, nämlich Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik. Wie Heidegger hier schreibt: Jene "elf Seiten der Kritik der reinen Vernunft", die das Schematismuskapitel bilden, "machen ... das Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes [aus]". Es besteht auch, fährt Heidegger fort, "nicht die geringste Veranlassung, über eine Uneinheitlichkeit und Verworrenheit des Schematismuskapitels immer wieder Klage zu führen. Wenn etwas in der Kritik der reinen Vernunft aufs schärfste durchgegliedert und in jedem Wort abgemessen ist, dann gilt das von diesem Kernstück des ganzen Werkes. ... Das Schematismuskapitel ist nicht 'verwirrt', sondern unvergleichlich durchsichtig gebaut. Das Schematismuskapitel ist nicht 'verwirrend', sondern führt mit einer unerhörten Sicherheit in den Kern der ganzen Problematik der Kritik der reinen Vernunft."[19]


 

Schematismus-Kapitel: Einblicke

 

Trotz der obigen Erklärung Heideggers, und trotz der Tatsache, daß er an der angeführten Stelle seiner Schrift sogar einen keineswegs unüberzeugenden Gliederungsvorschlag zum Schematismus-Kapitel bietet, bekenne ich mich zur Auffassung, daß dasselbe von gar manchen Unklarheiten behaftet und durchaus interpretationsbedürftig ist. Ich werde im Laufe meines Vortrages die Umrisse einer möglichen Interpretation zu skizzieren versuchen, zunächst heißt es aber, überhaupt die Schematismus-Problematik vorzustellen. Irgendwelche Zusammenfassung des Kapitels anzustreben würde ich für ein grundsätzlich verfehltes Unterfangen halten; statt dessen versammele ich hier einige, teilweise auch längere, aus der Perspektive meines besonderen Interpretationsversuches ausgewählte Passagen. Wir wollen gleich mit den ersten Zeilen des Kapitels beginnen:
In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein, d. i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten. So hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen läßt. (A 137)
Ich hebe hier den Kontrast gedachte Rundung / angeschaute Rundung hervor. – Kant fährt nun mit der Beobachtung fort, daß – im Gegensatz zu den empirischen Begriffen – reine Verstandesbegriffe, wie etwa die Kategorie der Kausalität, unmittelbar sich überhaupt nicht auf sinnliche Anschauungen anwenden lassen. Es müsse daher "ein Drittes" geben,
was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema. (A 138)
Das transzendentale Schema, erklärt hier Kant, verbindet mittels der Zeit – als "transzendentaler Zeitbestimmung" – die reinen Verstandesbegriffe mit den Erscheinungen. Diese Erklärung wird etwas später detaillierter fortgesetzt, vorerst macht sich indessen eine eigenartige Wende des Gedankenganges bemerkbar, indem neben dem Begriff des transzendentalen nun auch der eines gleichsam sinnlichen Schemas auftritt, und in diesem Zusammenhang das Wort Bild zur Sprache kommt:
Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze, . . . . . ist dieses ein Bild von der Zahl Fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun Fünf oder Hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge ... in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst... Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. (A 140)
Worauf dann noch die unverkennbare Anspielung auf die Locke–Berkeleysche Kontroverse folgt:
In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemata zugrunde. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft... (A 140–141)
     Es ist das Verhältnis vom bildlichen Denken zum begrifflichen Denken, das eines der sich im Hintergrund des Schematismus-Kapitels befindenden Probleme, ja m. E. vielleicht das wichtigste dieser Probleme darstellt. Bildliches Denken ist freilich nicht bloß seit Locke und Berkeley ein Thema der Philosophie. Die Geschichte beginnt spätestens bei Platon.


 

Von Platon zu Hume

 

Diese Geschichte kann hier eben nur angedeutet werden. Bei Platon gehört selbstverständlich der immer wieder zweideutige Einsatz des schillernden Wortes idea dazu, welches doch Begriff meint, indessen "Gestalt" sagt; aber auch der bekannte Hinweis im Philebos auf den "Maler, der nächst dem Schreiber des Gesprochenen die Bilder davon in der Seele zeichnet". Bei der Aristoteles-Schule einerseits der Vergleich vom Geist als einer Schreibtafel, andererseits aber die klassische Lehre von den phantasmata: "Vorstellungsbilder", ohne welche "die Seele nie ... denkt", die "für die Denkseele ... wie Wahrnehmungsbilder" sind.[20] Im Denken tritt derselbe Affekt – pathos – auf "wie auch beim Zeichnen eines Diagramms". Und Gedächtnis ist "der Besitz einer Vorstellung als Abbild – eikon – dessen, wovon es die Vorstellung ist".[21] In Anlehnung an die Aristoteles-Schule schrieb dann Bacon: "Emblem reduceth conceits intellectual to images sensible, which strike the memory more. ... Aristotle saith well, 'Words are the images of cogitations, and letters are the images of words.' But yet it is not of necessity that cogitations be expressed by the medium of words. For whatsoever is capable of sufficient differences, and those perceptible by the sense, is in nature competent to express cogitations."[22] Es ist auch durchaus im Sinne von Bacon, wenn Locke über die Vorzüge eines Wörterbuchs nachdenkt, in welchem "words standing for things which are known and distinguished by their outward shapes [w]ould be expressed by little draughts and prints made of them".[23] Lockes eigentlicher Beitrag zur Philosophie des bildlichen Denkens besteht natürlich in seiner – keineswegs immer eindeutigen – Gleichsetzung von Ideen mit mentalen Bildern, so etwa im Abschnitt über Abstraktion, wo es ja heißt: "ideas taken from particular beings become general representatives of all of the same kind; and their names general names, applicable to whatever exists conformable to such abstract ideas. Such precise, naked appearances in the mind … the understanding lays up (with names commonly annexed to them) as the standards to rank real existences into sorts."[24]Die Wörter "idea", "conception", "thought" und "imagination" sind für Locke meistens gleichbedeutend.[25] Für Berkeley und Hume war es ganz und gar keine Frage, daß Ideen mentale Bilder sind; bekanntlich erblickten sie das Problem vielmehr darin, wie denn Bilder Träger von allgemeinen Bedeutungen sein können. Berkeley neigte dazu, das Problem für unlösbar zu halten; Hume meinte, eine Lösung gefunden zu haben.
     Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine Reihe von Werken entstanden, welche die Locke–Berkeley–Hume'sche Diskussion aus der Perspektive einer ganz bestimmten Auffassung analysierten. Laut dieser Auffassung, die bis zum letzten Viertel des Jahrhunderts, nämlich bis zum Aufkommen der kognitiven Psychologie die Auffassung einer mißachteten Minderheit geblieben ist, spielen geistige Bilder in unserem Denken eine wesentliche Rolle, und zwar müssen sich diese Bilder nicht ausschließlich auf das Konkrete und Einzelne beziehen, sondern können durchaus auch generische Bilder sein. Ich führe hier die Vorlesungen von Titchener aus dem Jahre 1909 an, Lectures on the Experimental Psychology of the Thought-Processes;[26] das 1953 erschienene Buch von H. H. Price, Thinking and Experience;[27] und Rudolf Arnheims Visual Thinking, 1969 veröffentlicht.[28] Titchener konnte sich noch auf eine breite angelsächsische, französische und deutsche psychologische und philosophische Literatur der Jahrhundertwende berufen, Arnheim mußte indessen im wesentlichen auf Titchener zurückgreifen und blieb selbst bis in die neunzehnhundertneunziger Jahre ohne Wirkung. Auf das Buch des Oxforder Philosophen Price weist Arnheim nicht hin; dasselbe ist noch heute weitgehend unbekannt. Zu unserem jetzigen Thema äußert sich Price folgendermaßen: "both Locke and Kant were talking about generic images, though they did not know it; and Hume was on the verge of talking about them, though he did not, of course, know it either".[29]


 

Kants verkappte Psychologie

 

Die Argumentationen einerseits von Titchener und Arnheim und andererseits von Price in bezug auf generische Bilder weisen wesentliche Parallelen auf. Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung, daß generische Bilder durch eine Art Unvollständigkeit charakterisiert sind. Titchener ist subjektiv überzeugend, Price ist begrifflich brillant, Arnheim ist anregend – nicht zuletzt, weil er durch Illustrationen auch zu zeigen versucht, was die anderen bloß sagen. Ihre Analysen bieten einen fruchtbaren heuristischen Hintergrund zum Verständnis sowohl der Kantschen Schematismus-Problematik als auch der vermutlichen Ursache von der verhältnismäßigen Verworrenheit des Schematismus-Kapitels. Ich werde auf diesen Punkt sogleich zurückkommen; vorerst möchte ich aber kurz andeuten, warum diese Analysen doch nicht als unmittelbare Kommentare zu Kant aufgefaßt bzw. eingesetzt werden können. Der Grund liegt bei Kant, des näheren bei der Zwitterstellung der Transzendentalphilosophie zwischen Psychologie und Begriffsanalyse. In seinem The Bounds of Sense weist Strawson immer wieder auf diese Zwitterstellung hin.[30] Kant, meint Strawson, hat den Bezugsrahmen verfehlt, in welchem er seine Untersuchungen wohlfundiert hätte ausführen können, er erblickte nicht, was zwei Jahrhunderte später Wittgenstein entdeckte, nämlich "den sozialen Charakter unserer Begriffe, die Zusammenhänge zwischen Denken und Sprache, Sprache und Kommunikation, Kommunikation und sozialen Gemeinschaften".[31] Stekeler-Weithofer wählt da ein anderes Deutungsvorgehen. Zwar gibt er zu, daß man "Kant ... vorwerfen [kann], [den] Zusammenhang zwischen subjektivem, einzahligem Ich und Sprach-Gemeinschaft nicht gesehen zu haben", ist aber nichtsdestotrotz der Auffassung: "Eine angemessene Interpretation der kantischen Terminologie macht deutlich, daß der Zusammenhang von Wahrnehmung, Anschauung und Denken ein sprachlogischer, nicht psychologischer Zusammenhang ist." In diesem Sinne formuliert er dann auch folgende Zusammenfassung: "Wenn Kant von der 'transzendentalen' Einheit der Apperzeption spricht, verweist er ... auf die allgemeine Rolle des Sprechers, der die ... aktuellen Wahrnehmungen, Anschauungen und Erfahrungen (laut oder leise) sprachlich kommentiert, als diese oder jene (generische) Wahrnehmung, Anschauung oder Erfahrung erkennt und von anderen, bloß möglichen, unterscheidet. Qua Rolle verweist der Sprecher auf die allgemeine Sprach- und Erkenntnisgemeinschaft, welcher er angehört." Und ein Hinweis einige Zeilen später: "Wahrnehmungen qua Schemata (Typen) sind ... nur soweit distinkt und klar, wie sie uns jedenfalls prinzipiell als gemeinsame zur Verfügung stehen."[32] Das ist eine radikale Deutung. Kant erscheint hier in Wittgensteinscher, ja in Sellarsscher Verkleidung. Ich wünschte, ich könnte dieser Verkleidung trauen. Ich kann das aber nicht, denn hinter den gemütlichen sprachphilosophischen Klamotten wird unverkennbar der Panzer des erkenntnistheoretischen Absolutisten sichtbar. Wie Röttgers in seinem Buch Metabasis hervorhebt, hielt ja Kant durchaus daran fest, daß es "so etwas wie einen 'allgemeinen und wahren Horizont' geben könne, 'der aus dem Standpunkt des höchsten Begriffs bestimmt wird'".[33] Wenn aber Kant die Voraussetzungen der Allgemeingültigkeit unserer Erkenntnisse begründen wollte, konnte er sich nicht auf den jeweiligen kognitiven Konsens einer Sprachgemeinschaft verlassen. Ich muß hier Hans Lenk zustimmen, sowohl der Bemerkung, die er im Laufe seiner Erläuterung des Kantschen Schematismus-Begriffes macht, wonach man nämlich Kant gegenüber heute die Freiheit und Biegsamkeit der wissenschaftlichen Theoriebildung hervorheben müsse, als auch dem Hinweis, daß Kants Zeitgenossen Herder und Lichtenberg, nicht aber Kant selbst an der "fundierenden Rolle" der Sprache glaubten.[34]


 

Zur Deutung des Schematismus-Kapitels

 

Wörter und Bilder

 

Laut der heutigen kognitiven Psychologie setzen Denken, Erinnerung und Erkenntnis das Zusammenwirken einerseits von verbalen, andererseits von perzeptuellen Prozessen voraus.[35] In Kants verkappter Psychologie durften indessen Bilder ebensowenig eine Rolle spielen wie die Sprache. Der Hinweis in der Kritik der Urteilskraft auf die Regierungen, welche "gerne erlaubt" haben, die Religion mit "Bildern und kindischem Apparat" reichlich zu versorgen, um dadurch die "Seelenkräfte" der Untertanen einzuschränken,[36] ist unmißverständlich. Allgemeingültige Wahrheiten ließen sich weder aus dem Stoff der verbalen noch aus dem der visuellen Erfahrung aufbauen. Es gibt allerdings auch einen zweiten Grund dafür, daß in der anspruchsvollen Logik der Kantschen Beweisführung der Begriff von Bildern kaum zum Wort kommen kann: nämlich überhaupt das Fehlen einer entsprechenden Logik der Bilder zu Kants Zeiten. Und diese Logik fehlte freilich, weil ja eine geeignete Technologie für die Erzeugung und Handhabung von Bildern ebenfalls nicht zur Verfügung stand. Das Problem indessen, das Kant im Schematismus-Kapitel beschäftigte, konnte ohne einen ausgearbeiteten Bildbegriff schlechthin nicht formuliert werden. Kein Wunder also, wenn dieses Kapitel einen etwas verworrenen Eindruck macht.

 

Vorbildliche Interpreten

 

Daß das Schematismus-Problem in erster Linie eine Problematik von Bildern ist, wurde bis heute von wenigen Interpreten bemerkt. Stekeler-Weithofer gehört zu den wenigen,[37] wie auch Hans Lenk.[38] Der Interpret aber, den ich hier besonders hervorheben möchte, ist Heidegger. Er war es, der zuerst und am eindringlichsten zeigte, daß die Schematismus-Problematik zugleich eine Bild-Problematik ist,[39] wo "Bild" unter anderem auch ganz unmittelbar "Abbild" bedeutet, "Abbild" etwa im Sinne einer Photographie oder einer Totenmaske. Abbilde können aber zeigen, betont Heidegger, "wie etwas 'im allgemeinen' aussieht, in dem Einen, was für viele gilt".[40] Heidegger, der den Anspruch auf allgemeingültige Wahrheiten aufgibt[41] und sich – als erster nach Nietzsche – vom Bann der abstrakten Schriftsprache befreit,[42] ist imstande, die Kantsche Schematismus-Problematik im rechten Licht zu deuten.

 

Blinde Interpreten

 

Von denen, die zu einer solchen Deutung nicht imstande sind, erwähne ich hier Strawson und Sellars. Weder bei Strawson noch bei Sellars kommt überhaupt das Wort "Bild" in bezug auf die Schematismus-Problematik vor, wobei doch Kant selbst im Schematismus-Kapitel dieses Wort oft benützt. Den Fall Sellars finde ich besonders verblüffend. Denn erstens hat Sellars durchaus einen Sinn für Bilder. Wie dies anhand des Bandes Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures by Wilfrid Sellars[43] klar wird, zeichnete er während seiner Lehrveranstaltungen leidenschaftlich gerne Bilder und Diagramme zur Erklärung philosophischer Probleme. Zweitens hatte Sellars ja bereits in den 1950er Jahren einen theoretischen Rahmen entwickelt, innerhalb dessen insbesondere das Thema mentale Bilder philosophisch tiefschürfend hätte analysiert werden können. In seinem klassischen Aufsatz "Empiricism and the Philosophy of Mind" machte Sellars den Vorschlag, mentale Episoden als theoretische Konstrukte aufzufassen, nämlich als von einer vorwissenschaftlichen Theorie nach dem Modell öffentlicher sprachlicher Episoden postulierte Entitäten. Dieser Vorschlag erstreckte sich aber nicht auf visuelle Episoden – "bildliche Vorstellung"[44] bedeutet für Sellars verbal imagery schlechthin.


 

Nachsicht

 

Dabei bestand innerhalb der kognitiven Psychologie der philosophisch-methodologische Durchbruch von Allan Paivio eben darin, mentale Bilder als "postulierte Prozesse", "theoretische Konstrukte", "inferentielle Begriffe", d. h. als im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie vorausgesetzte Entitäten bzw. Ereignisse aufzufassen, die an sich nicht beobachtbar sind, jedoch beobachtbare Aspekte bzw. Folgen haben. Introspektives Erleben visueller Vorstellungen einerseits und objektives Erfassen neuraler Erscheinungen andererseits sind verschiedenartige empirische Beobachtungen, die sich auf das einheitliche theoretische Konstrukt "mentales Bild" beziehen. In seinem unlängst verfaßten Aufsatz "Kant and Cognitive Science" schreibt Andrew Brook[45] diese Lösung bereits Kant zu, und gibt damit der transzendentalphilosophischen Methode eine äußerst glückliche Deutung. Kants Methode, meint Brook, "[was to] postulate unobservable mental mechanisms to explain observed".[46] Wichtig ist auch Brooks folgende Beobachtung: "Kant’s model of the mind was the dominant model in the 19th century empirical psychology that flowed from his work (Herbart, Helmholtz, Wundt) and then again, after a hiatus during which behaviourism reigned supreme (roughly 1910 to 1965), toward the end of the 20th century, especially in cognitive science." Die Dominanz des sprachzentrischen Behaviourismus auch in der Philosophie: Hier haben wir wohl die Erklärung für die vorübergehende Blindheit der Interpreten in bezug auf Kants Schematismus-Thema.


 



 

ANMERKUNGEN
  1. [1] Kants handschriftlicher Nachlaß (Ges. Schriften, herausgegeben von der Preuß. Akad. d. Wissenschaften, 1928, Bd. III/5), Nr. 6359,hier zitiert nach Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt/M.: Klostermann, 1998, S. 113.
  2. [2] Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin: Bruno Cassirer, 1923.
  3. [3] P. F. Strawson, The Bounds of Sense: An Essay on Kant's Critique of Pure Reason (1966), London: Routledge, 2004. Deutsche Übersetzung: Peter F. Strawson, Die Grenzen des Sinns: Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt/M.: Anton Hain, 1992.
  4. [4] Vgl. a. a. O., S. 150, 204 und 229.
  5. [5] Die Stelle auf S. 150 könnte ein Grenzfall sein. Cassirer schreibt hier über Kants "Sorge um die Festigkeit und Bestimmtheit der Terminologie, um die Genauigkeit in den Begriffsbestimmungen und Begriffseinteilungen, um die Übereinstimmung und den Parallelismus der Schemata". Ich bin mir nicht sicher, ob sich hier "Schemata" auf die im Kapitel "Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" behandelten Schematen ("das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen", A 140), oder allgemeiner auf die von Kant eingeführten begrifflichen Schemen bezieht.
  6. [6] Deutsche Ausgabe, S. 24.
  7. [7] The Bounds of Sense, S. 30 f. – Die deutsche Übersetzung, S. 25, ist an dieser Stelle etwas irreführend: "[U]m die tatsächliche Bedeutung der Kategorien in ihrer Anwendung auf die Erfahrung wahrzunehmen, [müssen wir] die Kategorien in Begriffen der allgemeinen Form sinnlicher Anschauung interpretieren. ... Die Rolle dieser Interpretation übernimmt der Schematismus. Er macht den Übergang von reinen Kategorien zu Kategorien-in-Gebrauch, indem er die ersteren in Begriffen der Zeit interpretiert." Strawsons "in terms of the general form of sensible intuition" bzw. "in terms of time" dürfte hier besser als "unter dem Aspekt der allgemeinen Form sinnlicher Anschauung" bzw. "unter dem Aspekt der Zeit" übersetzt werden.
  8. [8] Vgl. deutsche Ausgabe, S. 65, 72, 75, 230.
  9. [9] W. H. Walsh, "Schematism", Kant-Studien, Bd. 49 (1957). Neu abgedruckt in Robert Paul Wolff (Hrsg.), Kant: A Collection of Critical Essays, London: Macmillan, 1968.
  10. [10] "The chapter on Schematism probably presents more difficulty to the uncommitted but sympathetic reader than any other part of the Critique of Pure Reason. Not only are the details of the argument highly obscure ...: it is hard to say in plain terms what general point or points Kant is seeking to establish", Wolff (Hrsg.), S. 71.
  11. [11] Ebd., S. 74.
  12. [12] Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures by Wilfrid Sellars, herausgegeben von Pedro Amaral, Atascadero, CA: Ridgeview, 2002, S. 67: "the Schematism is the link between the very abstract argument of the Deduction and the specific principles, developed in the Analytic of Principles, that are introduced by the Schematism: the Schematism plays a very important role".
  13. [13] Pirmin Stekeler-Weithofer, Sinnkriterien: Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Platon bis Wittgenstein, Paderborn: Schöningh, 1995.
  14. [14] Kurt Röttgers – Monika Schmitz-Emans, Hrsg., Perspektive in Literatur und bildender Kunst, Essen: Die Blaue Eule, 1999.
  15. [15] Hans Lenk, Schemaspiele: Über Schemainterpretationen und Interpretationskonstrukte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995.
  16. [16] Dietzsch führt Kaulbachs Aufsatz "Schema, Bild und Modell nach den Voraussetzungen des Kantischen Denkens" an (erschienen in G. Prauss, Hrsg., Kant: Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1973), zu erwähnen ist aber auch Kaulbachs Immanuel Kant, Berlin: de Gruyter, 1982.
  17. [17] Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 1970, S. 204.
  18. [18] Unter dem Titel "Schematik und Symbolik". Siehe Helmuth Plessner, Frühe philosophische Schriften, Bd. 2 (Gesammelte Schriften II), Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 424–426.
  19. [19] Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 89 und 112 f.
  20. [20] Aristoteles, De anima, 430a und 431a. Hier zitiert nach Aristoteles, Über die Seele, übersetzt von Willy Theiler, Berlin: Akademie Verlag, 1986, S. 59 und 69.
  21. [21] Aristoteles, De memoria et reminiscentia, 450a und 451a, vgl. Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung, übersetzt von R. A. H. King, Berlin: Akademie Verlag, 2004, S. 14 und 16. – Im Hinblick auf Kants Schematismus-Begriff dürfte auch folgende Stelle von De memoria nicht uninteressant sein: Es ist "nicht möglich ..., etwas ... was nicht in der Zeit ist, ohne Zeit [zu denken]. ... Ausdehnung und Bewegung [ist] notwendigerweise mit dem zu erkennen, womit auch die Zeit", ebd. S. 14.
  22. [22] Francis Bacon, The Advancement of Learning (1605), Oxford: Clarendon Press, 1974, S. 130 f. Bacons Hinweis bezieht sich auf De interpretatione.
  23. [23] John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Buch III, Kap. XI, Abschn. 25.
  24. [24] Ebd., Buch II, Kap. XI, Abschn. 9.
  25. [25] Vgl. etwa Buch III, Kap. II, Abschn. 6.
  26. [26] Edward Bradford Titchener, Lectures on the Experimental Psychology of the Thought-Processes, New York: Macmillan, 1909.
  27. [27] H. H. Price, Thinking and Experience. London: Hutchinson's Universal Library, 1953.
  28. [28] Rudolf Arnheim, Visual Thinking, Berkeley: University of California Press, 1969.
  29. [29] Price, a. a. O., S. 292.
  30. [30] Wie Strawson zusammenfassend schreibt: "Es ist ein Gemeinplatz sowohl der alltäglichen als auch der wissenschaftlichen Beobachtung, daß der Charakter unserer Erfahrung, die Weise, in der uns die Dinge erscheinen, teilweise durch unsere humane Konstitution, durch die Natur unserer Sinnesorgane und unseres Nervensystems bestimmt ist. Das Funktionieren des menschlichen Wahrnehmungsmechanismus und die Weise, in der unsere Erfahrung von diesem Funktionieren kausal abhängig ist, sind Gegenstände empirischer oder wissenschaftlicher, nicht philosophischer Erforschung. Kant war sich dessen wohl bewußt; er wußte sehr wohl, daß eine solche empirische Untersuchung ganz verschieden war von der von ihm vorgeschlagenen Untersuchung der fundamentalen Struktur von Gedanken, durch die allein wir uns den Gedanken der Erfahrung der Welt einsichtig machen können. Trotz dieses Wissens jedoch verstand er eine Untersuchung des zuletzt genannten Typs in einer Art gezwungener Analogie zu einer Untersuchung des zuerst genannten Typs. Wo immer er begrenzende oder notwendige allgemeine Züge der Erfahrung fand, behauptete er, ihre Quelle liege in unserer kognitiven Konstitution. Diese Lehre schien ihm unentbehrlich zur Erklärung der Möglichkeit eines Wissens von der notwendigen Struktur der Erfahrung. Es gibt gleichwohl keinen Zweifel daran, daß diese Lehre in sich inkohärent ist und den wahren Charakter der Untersuchung eher verschleiert als erklärt: so daß das zentrale Problem für ein Verständnis der Kritik genau dies ist, alles, was mit dieser Lehre zusammenhängt, zu lösen von dem analytischen Argument, das tatsächlich von ihr unabhängig ist" (Die Grenzen des Sinns, S. 12).
  31. [31] Die Grenzen des Sinns, S. 128.
  32. [32] Sinnkriterien, S. 184 f.
  33. [33] Kurt Röttgers, Metabasis: Philosophie der Übergänge, Magdeburg: Scriptum Verlag, 2002, S. 119 f. Der Hinweis bezieht sich auf A 659.
  34. [34] Schemaspiele, S. 18 f. und 20 ff.
  35. [35] Vgl. insb. Allan Paivio, Imagery and Verbal Processes, New York: Holt, Rinehart and Winston, 1971.
  36. [36] Kritik der Urteilskraft, § 29.
  37. [37] Vgl. etwa Sinnkriterien, S. 189.
  38. [38] Siehe Schemaspiele, S. 16 ff.
  39. [39] Kant und das Problem der Metaphysik, S. 90–108.
  40. [40] Ebd., S. 94.
  41. [41] Vgl. etwa die "Davoser Disputation", im Band Kant und das Problem der Metaphysik, zitierte Ausgabe, S. 277 f. und 281 f.
  42. [42] Vgl. meine Aufsätze "Heidegger und Wittgenstein", in I. M. Fehér, Hrsg., Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk, Berlin: Duncker & Humblot, 1991, S. 71–83, und "Post-Literacy as a Source of Twentieth-Century Philosophy", Synthese 2002/2, S. 185–199.
  43. [43] Vgl. Anm. 12.
  44. [44] Wilfrid Sellars, "Der Empirismus und die Philosophie des Geistes", in Peter Bieri, Hrsg., Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts.: Hain, 1981, S. 193.
  45. [45] Andrew Brook, "Kant and Cognitive Science" (2004), digitale Veröffentlichung, http://www.carleton.ca/~abrook/KNT-CGSC.htm.
  46. [46] Bemerkenswert finde ich, daß Brook in seiner Bibliographie auch auf Sellars hinweist.