Globale Gesellschaft
und lokale Kultur im Zeitalter der Vernetzung*
[magyarul]
Einleitung
Nation
als abstrakte Gemeinschaft
Das
Unbehagen in der Buchkultur
Erlösung Kommunikation: Von
Dewey zu Ong
Globale Wirtschaft: Funktionsverlust
des Nationalstaates
Globalisierung und Lokalisierung
Vernetzung
und neue Gemeinschaftlichkeit
Der Mensch ist ein
Produkt kultureller Evolution, die menschliche Umwelt ist von jeher eine
Welt von Artefakten. Indessen hat der Mensch auch eine Naturgeschichte,
und es ist in diesem Sinne durchaus zulässig, von einer natürlichen
menschlichen Lebenswelt zu reden. Der gesellschaftliche Rahmen der
natürlichen Lebenswelt des Menschen ist durch unmittelbare persönliche
Beziehungen gebildet. Die Ausschließlichkeit solcher Beziehungen
kennzeichnete die menschliche Gesellschaft bis vor einigen tausend Jahren;
dieselben blieben in Europa vorherrschend bis ins neunzehnte Jahrhundert
und sind es in vielen Weltteilen noch heute; sie konstituieren die unerläßliche
Umgebung der frühen Kindheitsentwicklung immer und überall.
Primärgruppe
ist die soziologische Bezeichnung für jene Kreise innerhalb der modernen
Gesellschaft, die nach wie vor von persönlicher, face-to-face
Kommunikation abhängig sind - wie die Familie oder die Nachbarschaft.
Und auch in der neuzeitlich-modernen, in hohem Maße vom abstrakten
und unpersönlichen Medium des Buchdruckes bestimmten Welt war es Teil
des normalen Daseins des Menschen, Mitglied zahlreicher Primärgruppen
zu sein. Allerdings identifiziert sich der moderne Mensch eben auch - oft
gar vorwiegend - mit solchen Gruppen, deren Mitglieder einander größtenteils
niemals begegnet sind. Hiermit entsteht ein Riß in der Kommunikationsumwelt
eines jeden. Die natürlich-multimediale, das ganze Sensorium miteinbeziehende
Kommunikation richtet sich auf einen engen Kreis und wird in der Regel
auf das Alltägliche, gar Unwichtige, beschränkt, während
die als bestimmend empfundenen, sich an die ganze Großgruppe gerichteten
Mitteilungen im verkümmerten Medium der keine Interaktivität
zulassenden, stummen, linearen, abstrakten Drucksprache erfolgen.
Jene Großgruppe, die in der modernen Geschichte
des Westens die grundlegende Stellung einnimmt, ist die Nation.
Kommunikationstechnologische Entwicklungen, welche bei dem Entstehen der
Nation als abstrakte Gemeinschaft eine wesentliche Rolle gespielt
haben, bilden das erste Thema meines Vortrags. Zum zweiten werde ich auf
gewisse literarische Reaktionen hinweisen, die sich im späten neunzehnten
Jahrhundert gegen das Vorherrschen eben dieser Technologien richteten.
Allerdings konnte man Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
bereits neue - elektrische - Kommunikationstechnologien erblicken: drittens
werde ich also von Hoffnungen sprechen, die sich auf diese letzteren bezogen;
und zwar möchte ich meine Geschichte hier bis in die neunzehnhundertsiebziger
Jahre, etwa bis zur vollen Ausbildung des Walter J. Ong'schen Paradigmas
der von ihm so genannten
sekundären Mündlichkeit fortführen.
Mit den achtziger Jahren erfolgte der Durchbruch der weltweiten Computervernetzung;
die zu jener Zeit bereits unverkennbaren, auf eine globale Wirtschaft und
Politik hinauslaufenden Prozesse wurden weiter verstärkt. Dies wird
dann mein viertes Thema sein: Globalisierung und der Funktionsverlust des
Nationalstaates. Der Verlust ist keineswegs ein totaler. Staaten haben
heute etwa die dringende Aufgabe - und zur Erfüllung dieser Aufgabe
stehen ihnen prinzipiell und im allgemeinen auch die Mittel zur Verfügung
- , einerseits auf ihren Territorien einen angemessenen Zugang zum Netz
zu sichern, und andererseits ihre Bevölkerungen durch entsprechende
Ausbildung in die Lage zu versetzen, diesen Zugang auch verwerten zu können.
Freilich ist dies eine Aufgabe, welche nunmehr eben auch von subnationalen
staatsähnlichen Entitäten gewährleistet werden kann. Globalisierung
und Lokalisierung bedingen einander gegenseitig - dies ist mein
fünftes Thema. Und abschließend werde ich dann eben von den
Auswirkungen jener Lokalisierung sprechen: von einer neuen Gemeinschaftlichkeit,
die durch die weltweite Vernetzung ermöglicht wird; von engen - fast-unmittelbaren
- und interaktiv-multimedialen - fast-persönlichen - Beziehungen im
globalen virtuellen Raum; und von einer neuen lokalen Gemeinschaftlichkeit.
Nation
als abstrakte Gemeinschaft
Europa im fünfzehnten Jahrhundert war ein Land von
unzähligen Sprachen bzw. Dialekten und von unzähligen feudalen
Herrschaftskreisen, wobei Sprachgebiete und politische Einflußbereiche
nicht einmal zufällig zusammenfielen. Die zentralisierenden Bemühungen
der absolutistischen Monarchien im sechzehnten Jahrhundert zielten notgedrungen
auch auf eine sprachliche Vereinheitlichung hin - auf eine Vereinheitlichung,
ohne welche der Aufbau entsprechend funktioniernder Bürokratien unmöglich
gewesen wäre. Mehr aber als durch den politischen Willen wurde das
Entstehen der modernen, einheitlichen Nationalsprachen durch die wirtschaftlichen
Interessen des Buchdruckes bzw. Buchhandels gefördert. Verleger waren
daran interessiert, möglichst hohe Auflagen zu erreichen; sie wendeten
sich an ein potentielles Lesepublikum, das kein Latein verstand; sie arbeiteten
an der Eliminierung dialektaler Unterschiede in Wortschatz, Grammatik und
Schreibweise, um in den entsprechenden Landessprachen eine breite Leserschaft
ansprechen zu können. In Deutschland stützte sich das Buchgeschäft
bekanntlich auf Luthers Genie - nämlich nicht zuletzt auf sein Sprachgenie.
Buchdruck und Buchhandel - das Zeitschriften- und Zeitungswesen
miteinbegriffen - liefern also ein gutes Beispiel für den Zusammenhang
von Nationalsprache und Nationalmarkt. Der entscheidende Zusammenhang
allerdings ist jener zwischen Nationalsprache und nationalem Arbeitsmarkt.
[1] Um als vollwertiges Mitglied der modernen industriellen
Gesellschaft gelten zu können, muß der Mensch fähig sein,
in den verschiedensten Situationen mit vielerlei Leuten zu kommunizieren
und sich insbesondere auf immer neue Arbeitsaufgaben einzustellen. Mit
anderen Worten, er muß ein hohes Niveau an kontextfreier kommunikativer
Kompetenz besitzen. Diese ließe sich nicht etwa an Dorfschulen, die
allein auf sich gestellt sind, erlernen; das Vermitteln einer solchen Kompetenz
setzt vielmehr ein ganzes Schulsystem voraus, in welchem alle Lehrer,
die nachher an unteren Schulstufen unterrichten sollen, eine einheitliche
Ausbildung an höheren Schulen erhalten. Wobei "einheitliche Ausbildung"
auch eben Ausbildung in einer einheitlichen Sprache, also in der
Nationalsprache bedeutet. An der Spitze der Bildungspyramide befindet sich
die nationale Universität als höchste Garantie von Qualität
und sprachlich-konzeptueller Einheitlichkeit. Ein solches Schulsystem,
ohne das eine moderne Gesellschaft nicht bestehen kann, setzt notwendigerweise
den territorialen Nationalstaat als die kleinstmögliche politische
Einheit voraus, welche diesem zur Grundlage zu dienen geeignet ist. In
der Tat verfügt einzig und allein der moderne Staat über die
hier einzusetzenden Mittel und über die hier erforderliche zentrale
Gewalt. Die nationale Kultur, die durch den Nationalstaat aufgebaut und
gepflegt wird, kann mit Recht die höchste Loyalität derer beanspruchen,
die an ihr teilhaben: diese sind es, die auf dem nationalen Arbeitsmarkt
den Ausgegrenzten gegenüber monopolistische Vorteile von Möglichkeiten
horizontaler Mobilität und auch reelle Chancen vertikaler Mobilität
genießen.
Nationalität, also Zugehörigkeit
zu einer Nation, ist keine naturwüchsige Gegebenheit; sie ist eine
geschichtlich-soziologische Konstruktion. Nun ist aber diese Zugehörigkeit
eben nur abstrakt-symbolisch erlebbar. Britannien wurde von Samuel Johnson
im achtzehnten Jahrhundert als eine "Nation der Leser" bezeichnet; was
er damit meinte, war, daß Bücher und Zeitschriften zum hauptsächlichen
Träger jenes Gemeinschaftsgefühls geworden waren, durch welches
eine nationale Identität überhaupt konstituiert werden konnte.
[2] Vor einigen Jahren hat Benedict Anderson zu diesem
Thema ein Buch verfaßt: Imagined Communities: Reflections on the
Origin and Spread of Nationalism. [3] Anderson
beschreibt hier etwa die Lektüre der Morgenzeitung als eine paradoxe
Massenzeremonie: "Dieselbe wird in stiller Einsamkeit ausgeführt,
im Versteck des Schädels. ... Doch jeder Kommunikant ist sich bewußt,
daß die von ihm vollzogene Zeremonie gleichzeitig durch Tausende
(oder Millionen) andere nachgebildet wird, von deren Existenz er überzeugt,
von deren Identität er aber nicht die blasseste Ahnung hat." [4]
Wahrlich, eine kräftige Metapher der säkularen, imaginären
Gemeinschaft.
Das
Unbehagen in der Buchkultur
Wir wollen nun kurz auf Andersons
Anspielung auf die "stille Einsamkeit" des Lesens eingehen. Bis ins späte
Mittelalter war das laute Lesen die Regel, das lautlose Lesen eine seltene
Ausnahme. Dies änderte sich mit der Verbreitung des gedruckten Buches.
Der wirkliche Hintergrund von John Locke's Bild eines in der isolierten
Einsamkeit seines eigenen Geistes reflektierenden Subjekts ist der stumm,
für andere nicht hörbar lesende und also nicht hörbar denkende
Mensch. Derjenige, der Mitglied einer Nation als abstrakter Gemeinschaft
ist, ist eben als Mitglied der Buchkultur ein einsamer Mensch. Die Reaktion
tritt bereits bei Rousseau und Herder ein und erhält eine besonders
beeindruckende Formulierung bei Richard Wagner, in seinem berühmten
Essay "Beethoven", veröffentlicht achtzehnhundertsiebzig. Ich erlaube
mir, hier ein längeres Zitat vorzulesen. "Wollen wir uns ein wahres
Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes vorstellen", meinte
also Wagner, "so haben wir uns in die Zeiten vor der Erfindung der Schrift
und ihrer Aufzeichnung auf Pergament oder Papier zu versetzen. Wir müssen
finden, daß hier das ganze Kulturleben geboren worden ist, welches
jetzt nur noch als Gegenstand des Nachsinnens oder der zweckmäßigen
Anwendung sich forterhält. Hier war denn auch die Poesie nichts
anderes als wirkliche Erfindung von Mythen... Die Befähigung hierzu
sehen wir in jedem edel gearteten Volke zu eigen, bis zu dem Zeitpunkte,
wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt. Von da ab schwindet ihm die
poetische Kraft; die bisher wie im steten Naturentwickelungsprozeß
lebendig sich gestaltende Sprache verfällt in den Kristallisationsprozeß
und erstarrt; die Dichtkunst wird zur Kunst der Ausschmückung der
alten, nun nicht mehr neu zu erfindenden Mythen und endigt als Rhetorik
und Dialektik. - Nun aber vergegenwärtigen wir uns den Übersprung
der Schrift zur Buchdruckerkunst. Aus dem kostbaren geschriebenen Buche
las der Hausherr der Familie, den Gästen vor; nun jedoch liest jeder
selbst aus dem gedruckten Buche still für sich, und für die Leser
schreibt jetzt der Schriftsteller. ... Aber noch konnte der Genius eines
Volkes mit dem Buchdrucker sich verständigen, so kläglich ihm
der Verkehr auch ankommen mochte; mit der Erfindung der Zeitungen, seit
dem vollen Aufblühen des Journalwesens, mußte jedoch dieser
gute Geist des Volkes sich gänzlich aus dem Leben zurückziehen.
Denn jetzt herrschen nur noch Meinungen, und zwar »Öffentliche«;
diese sind für Geld zu haben, wie die öffentlichen Dirnen..."
[5]
Wagners Unbehagen in der modernen Buchkultur bedeutete
bei ihm nicht zugleich ein Durchschauen der Gründe von nationaler
Vereinzelung. Anders bei Nietzsche. "Der Deutsche liest nicht laut, nicht
für's Ohr", heißt es an einer oftzitierten Stelle aus
Jenseits
von Gut und Böse, "sondern bloss mit den Augen... Der antike Mensch
las, wenn er las - es geschah selten genug - sich selbst etwas vor, und
zwar mit lauter Stimme... Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den
Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's,
an denen die antike öffentliche
Welt ihre Freude hatte." [6]
Nietzsche verbindet die Dominanz der Schriftsprache ganz eindeutig einerseits
mit der epistemologischen Wahnvorstellung einer leiblosen Kognition - er
spricht von der "alte[n] Begriffs-Fabelei, welche ein »reines, willenloses,
schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss«" postuliert [7]
- und andererseits mit dem im tatsächlichen Volksleben eben
nicht verwurzelten "nationalen Nervenfieber": er erwähnt "zum Beispiel
bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald
die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische,
bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische". [8]
Erlösung Kommunikation:
Von Dewey zu Ong
Bekanntlich war die Tageszeitung zu Nietzsches Zeiten
bereits stark von der Telegrafie abhängig - Anfang der achtzehnhundertsiebziger
Jahre gab es kaum mehr eine Großstadt, die nicht verkabelt war. Nietzsche
haßte die Verkürzung und Verflachung der Schriftsprache durch
das Telegramm, [9] wobei er aber in der Möglichkeit,
daß das Aufkommen der telegrafiebedingten Zeitung der Anfang vom
Ende
des Zeitalters des Buches sein könnte, ganz klar auch etwas Befreiendes
erblickt. Die Erfindung des Telegrafs hat ja bekanntlich geradezu chiliastische
Hoffnungen erweckt. Samuel Morse selbst eröffnete achtzehnhundertvierundvierzig
zwischen Baltimore und Washington die erste Telegrafenleitung mit der biblischen
Frage What hath God wrought?, "Was hat Gott getan?" (Num 23,23)
- oder auch: "welche Wunder Gott tut", in der glücklichen Übersetzung
der Lutherbibel Standardausgabe.. Eine Erfindung solcher Tragweite, wollte
Morse offenbar andeuten, muß geradezu Gottes Fügung sein. Bald
dürfte, schrieb er, die ganze Oberfläche Amerikas gleichsam mit
Nerven durchwoben werden, welche mit Gedankengeschwindigkeit ein
Wissen von allem, was im Lande vor sich geht, verbreiten und in der Tat
eine einzige Nachbarschaft schaffen würden. Unzählige
Kommentare seiner Landesleute sprachen von der Verheißung der nunmehr
im Entstehen begriffenen Einheit von Interessen, der Menschheit als eine
eins werdende Seele, und des weltweiten Sieges des Christentums. Man erwartete
universellen Frieden und universelle Harmonie. [10]
Auf die Verbreitung des Telegrafen folgte die des Telefons
ab der achtzehnhundertachtziger, des Rundfunks ab der neunzehnhundertzwanziger
und des Fernsehens ab der neunzehnhundertvierziger Jahre - Ereignisse,
die die Bedeutung unmittelbarer Kommunikation bzw. persönlicher Präsenz
freilich zutiefst verändert haben, auf welche ich hier aber nicht
einmal andeutungsweise eingehen kann. Statt dessen möchte ich, kürzer
als es angemessen wäre, auf gewisse in breitem Sinne philosophische,
jene Ereignisse rezipierende und analysierende Entwicklungen hinweisen.
Und zwar zunächst auf einige Anfang des Jahrhunderts verkündete
Ideen von zwei, miteinander in enger Verbindung stehenden amerikanischen
Denker, nämlich John Dewey und sein Student Charles Horton Cooley.
Beide übten einen nachhaltigen Einfluß auf die Gesellschaftstheorie
der Kommunikation der folgenden Dezennien aus.
Von Dewey stammt die oft angeführte Formulierung:
"Gesellschaft existiert nicht nur
durch Übermittlung, durch
Kommunikation; sondern man kann von ihr sagen, daß sie
in
der Übermittlung selbst, in der Kommunikation selbst existiert.
Es besteht mehr als eine Wortverbindung zwischen den Wörtern common,
»etwas gemeinhaben«, community, »Gemeinschaft«,
und »Kommunikation«. Menschen leben in Gemeinschaften auf Grund
der Dinge, die ihnen gemein sind; und Kommunikation ist der Weg, durch
den sie dazu gelangen, Dinge gemein zu haben." [11]
Von Cooley stammt der von mir eingangs verwendete Begriff Primärgruppe.
Cooley hatte hier eine wichtige Hypothese: Was Gebärde und Rede für
die Primärgruppe sichern, meinte er, würden moderne Kommunikationsmittel
für die ganze Gesellschaft leisten. Dewey war gegenüber dieser
Hypothese eher skeptisch. Ihm zufolge ließe sich die persönliche
Intimität der engeren Gemeinschaft kaum auf die breitere Gesellschaft
übertragen: "Die »große Gemeinschaft«, Great
Community, im Sinne der freien und vollständigen Interkommunikation
ist vorstellbar. Aber dieselbe kann niemals all die Eigenschaften besitzen,
die eine lokale Gemeinschaft ausmachen." [12] Die
lokale Nachbarschaft sei eben die Umwelt, meinte Dewey, in welcher sich
mündliche Mitteilung und gesamtgesellschaftliche Kommunikation - er
dachte damit vor allem an die gedruckte Sprache - gegenseitig ergänzen
müßten.
Die Entthronung des gedruckten Textes erfolgt dann etwa
vierzig Jahre später [13] - und zwar nicht nur
bei Marshall McLuhan, dessen Werk ich hier als bekannt voraussetze. Nuenzehnhundertdreiundsechzig
wurde der inzwischen zum Klassiker gewordene Aufsatz "Konsequenzen der
Literalität" von Goody und Watt veröffentlicht, und die Autoren
konnten hier bereits auf die Tatsache hinweisen, daß unsere Gegenwart
freilich nicht mehr vom Buchdruck, sondern in zunehmendem Maße von
den neuen Kommunikationsmedien - sie erwähnen Rundfunk, Film und Fernsehen
- beherrscht werde. Diese Medien, meinen Goody und Watt, zeigen nicht mehr
"die abstrakte und vereinzelnde Qualität des Lesens und Schreibens",
sondern stellen vielmehr eine Wiederkehr der "direkten persönlichen
Interaktion" dar. "Es könnte sogar sein", heißt es weiter, "daß
diese neuen Kommunikationsmodi, die Bild und Ton ohne jede räumliche
und zeitliche Beschränkung übermitteln, zu einer neuen Kultur
führen, einer Kultur, die weniger nach innen gewandt und weniger individualistisch
sein dürfte als die literale Kultur und die etwas von der relativen
Homogenität der nicht-literalen Gesellschaft haben dürfte." [14]
McLuhan, Goody-Watt, Milman Parrys Erbe Albert B. Lord und der klassische
Philolog Eric Havelock bilden schließlich den Hintergrund von Walter
J. Ongs Werk. Ong kommt der Verdienst zu, zwischen den Theorien von postliterarer,
literarer und präliterarer Kommunikation eine Synthese geschaffen
zu haben. "Mit dem Telefon, Radio und Fernsehen und den diversen Tonbändern",
schreibt Ong, "hat uns die elektronische Technologie ins Zeitalter der
»sekundären Mündlichkeit« gebracht. Diese neue Mündlichkeit
hat verblüffende Ähnlichkeiten mit der alten hinsichtlich partizipatorischen
Mystik, Hegung des Gemeinsinnes, ... [und] Konzentration auf den gegenwärtigen
Augenblick... Aber dies ist eine wesentlich überlegtere und bewußtere
Mündlichkeit, die permanent auf Schrift und Buchdruck angewiesen ist,
welche ja auch für die Herstellung, den Betrieb und die Anwendung
des Instrumentariums wesentlich sind." [15] Ong hat
das Phänomen Computer - nämlich den Textverarbeiter - noch aktiv
miterleben, kaum mehr aber tief interiorisieren und eben auch nicht richtig
interpretieren können - Digitalisierung impliziert für ihn bloß
eine weitere Vergegenständlichung der Sprache. Und zum Netz
kenne ich keine Ongschen Reflexionen. Die Konsequenzen der Vernetzung sind
in der von Dewey zu Ong führenden Theorie unmittelbar nicht mehr zu
deuten. Ich möchte jetzt einen Blick werfen auf diese Konsequenzen
in bezug auf den Nationalstaat.
Globale Wirtschaft: Funktionsverlust
des Nationalstaates
Der moderne, zentralisierte, territoriale Nationalstaat
verliert zunehmend seine Funktionen. Die Tendenz ist spätestens seit
Ende des zweiten Weltkrieges augenscheinlich; sie hat sich besonders seit
den achtziger Jahren vertieft und beschleunigt und ist heute eine allgemein
anerkannte Tatsache, über die jede Zeitung schreibt und in bezug auf
welche eine wahre Flut wissenschaftlicher Literatur entstanden ist bzw.
täglich entsteht. Es befinden sich viele brilliante und wirklich tiefschürfende
Arbeiten darunter; [16] einige werde ich erwähnen,
aber auf die Gesamtproblematik kann ich natürlich nicht eingehen.
Uns interessiert hier diese Tendenz aus einer besonderen Perspektive: Aus
der Perspektive der Frage, inwieweit der Funktionsverlust des Nationalstaates
den Druck auf den Einzelnen vermindert, in unpersönlichen Beziehungen
aufgehen zu müssen, um als ein mündiges Mitglied der Gesellschaft
gelten zu können.
Die ursprüngliche und wichtigste Rolle des Staates
von jeher war es: Kriege zu führen. Im nuklearen Zeitalter vermindert
sich die Verteidigungsfähigkeit des territorialen Staates beträchtlich.
Auch können Territorialstaaten keinen wesentlichen Einfluß mehr
auf grenzüberquellende Umweltverschmutzung oder auf grenzunabhängiges
Satellitenfernsehen, nationale Zentralbanken auf nationale Währungen,
und überhaupt nationale Regierungen auf die wirtschaftlichen Vorgänge
in ihrem Lande haben. Die Autorität des modernen Nationalstaates ist
nicht erst durch die Computervernetzung erschüttert - wobei letztere
freilich zu einer ungeheueren Verstärkung der bereits wirkenden Tendenzen
führt.
Der Arbeitsmarkt - einmal abgesehen von den von Robert
Reich "in-person services" genannten Leistungen - ist global geworden.
Die globale Arbeitssprache ist die englische; Spanisch und Französisch
besitzen einen immerhin noch breiten regionalen Einfluß. Um sich
auf dem Arbeitsmarkt bewähren zu können, muß man also mindestens
zweisprachig werden. Wie es in der Weihnachtsnummer des Economist
1996 hieß: "increasingly, people will have two languages: one for
doing the shopping and talking to their friends, the other for communicating
with the formal world. That language will be English." Wenn aber die Kompetenz
für fachlichen Verkehr nicht in der Nationalsprache erfolgen soll,
so wird damit auch das einheitliche nationale Schulwesen überflüssig.
Höhere Qualifikationen wird man im Rahmen eines globalen, zum Teil
virtuellen Hochschulsystems erwerben können; zum Verkehr in der näheren
Umgebung genügt eben die Muttersprache, der Dialekt, welcher dann
auch sehr wohl lokal gepflegt und in örtlichen Schulen vermittelt
werden kann. Damit entfällt eine der wesentlichsten Funktionen des
Nationalstaates. Es ist zwar nicht der Fall, daß Bildung und Wissen
ortsunabhängig sind. Wie Lester C. Thurow in seinem The Future
of Capitalism schreibt: "Wie alles andere, bewegen sich Wissen und
Fertigkeiten um die Welt - nur langsamer, als alles andere. Bildung und
Ausbildung beanspruchen eine lange Zeit, und viele der relevanten Fertigkeiten
werden nicht an formalen Bildungsstätten gelehrt, sondern sind Verfahrensfertigkeiten,
die nur in einer Arbeitsumgebung gelernt werden können." [17]
Um das globale Kapital anzuziehen und damit Arbeitsplätze, ja möglichst
gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, muß sich die territoriale
Regierung sowohl um die höhere Ausbildung als auch um Forschung und
Entwicklung kümmern. Nur trifft es eben nicht zu, daß die entsprechende
Regierung eine nationale sein muß. Kleinere Einheiten können
erfolgreicher sein. Manuel Castells verwendet die Begriffe "local state"
und "network state", Lokalstaat und Netzwerkstaat, um quasi-autonome
subnationale politische Entitäten und deren regionale und globale
Verbindungen zu bezeichnen. "Der Staat verschwindet nicht", schreibt Castells.
"Er wird einfach reduziert [downsized] im Informationszeitalter. Er wuchert
in Form lokaler und regionaler Regierungen, die die Welt mit ihren Projekten
übersäen, Wählerschaften aufbauen und mit nationalen Regierungen,
multinationalen Gesellschaften und internationalen Organen verhandeln.
Das Zeitalter der Globalisation der Wirtschaft ist zugleich das Zeitalter
der Lokalisation vom Staatswesen. Was lokalen und regionalen Regierungen
an Macht und Mitteln fehlt, gleichen sie an Flexibilität und Vernetztheit
aus. Wenn überhaupt noch etwas, sind sie es, die der Dynamik der globalen
Netzwerke von Reichtum und Information gewachsen sind."[18]
Globalisierung und Lokalisierung
Nicht nur im wirtschaftlichen und politischen Sinne, sondern
auch ganz allgemein gilt es, daß Globalisierung und Lokalisierung
keine Gegensätze sind, sich nicht gegenseitig ausschließen,
sondern geradezu gegenseitig bedingen. [19] Das Globale
ist letzten Endes nichts anderes, als eine Verbindung von lokalen Elementen;
aber auch das Lokale ist global konstituiert. Die letzte Behauptung mag
befremdend klingen. "Lokal" bedeutet ja soviel wie örtlich;
und ein Ort, würde man meinen, ist eben geographisch und physisch
definiert, nicht etwa durch entfernte Beziehungen bestimmt. Der Schein
trügt. Versteht man unter einem "Ort" mehr als die bloßen geodätischen
Koordinaten, so läßt sich bald zeigen, daß Örtlichkeiten
gesellschaftliche Konstruktionen sind. Das Heimatdorf, die liebliche Kleinstadt
oder die schöne Naturlage: sie sind aus Erinnerungen, Bekanntschaften,
Aktivitäten und Idealen aufgebaut. Natürlich gehören auch
Steine, Flüsse usw. zu ihrer Substanz; aber eine Ruine etwa kann sowohl
als Baumaterial als auch als Touristenattraktion aufgefaßt werden,
und das Donauknie würde kaum derselbe Ort bleiben, wenn dort jenes
umstrittene Kraftwerk doch verwirklicht werden würde. Der Ort läßt
sich begrifflich als ein Treffpunkt, als ein Kreuzungspunkt von Aktivitätsräumen,
von Verbindungen und gegenwärtigen Beziehungen, von Einflüssen
und Bewegungen auffassen. In der Formulierung von Doreen Massey: "Was einem
Ort seine Besonderheit gibt, ist... die Tatsache, daß derselbe aus
einer besonderen Konstellation von gesellschaftlichen Beziehungen konstruiert
ist, die sich an einem besonderen Punkt treffen und kreuzen. ... Orte sollte
man sich nicht als umgrenzte Gebiete vorstellen, sondern als artikulierte
Momente in Netzwerken von gesellschaftlichen Beziehungen und Auffassungen,
wobei sich ein Großteil dieser Beziehungen, Erfahrungen und Auffassungen
auf eine weitaus größere Fläche ausdehnt, als der Ort,
den wir zu definieren uns gerade entschließen." [20]
Vernetzung
und neue Gemeinschaftlichkeit
Ich habe diese sozial-konstruktivistische
Erklärung von Lokalität oder Örtlichkeit, die ich selbst
überzeugend finde, möglichst auch überzeugend zu schildern
versucht, um mir meine Aufgabe nicht leichter zu machen als sie ist: die
Aufgabe, für die Möglichkeit eines neuen Lokalismus zu
plädieren. Durch die globale Vernetzung entsteht eine neue Gemeinschaftlichkeit:
einerseits im virtuellen Raum - andererseits aber auch im physischen, nämlich
im örtlichen.
Betrachten wir zunächst den virtuellen Bereich. Unmittelbar
fällt hier auf, daß seit der Verbreitung von e-mail die Familien-
und Verwandtschaftsbeziehungen, die Freundschaften sowie die im persönlichen
Kontakt zustandegekommenen kollegialen Beziehungen weit weniger unter der
eventuellen physischen Distanz leiden, als dies früher der Fall war.
Und natürlich gibt es die vielen Bekanntschaften, die durch e-mail
entstehen und dann zu persönlichen Begegnungen führen. Man sollte
hier ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, daß der
leidenschaftliche Netzbenutzer in der Wirklichkeit ein Einzelgänger
oder gar Sonderling sei. Im Gegenteil: hingebungsvolle virtuelle Aktivität
und hingebungsvolle reell-menschliche Tätigkeit gehen erfahrungsgemäß
einher.
Zweitens läßt sich erkennen, daß das
Netz die Möglichkeit zur Existenz von Gemeinschaften bietet, die sonst
überhaupt nicht, oder nur mit großen Schwierigkeiten und schwacher
Effizienz zustandekommen bzw. fortbestehen könnten: die verschiedensten
religiösen oder säkularen Subkulturen, aber auch ethnische Gruppen.
Das Netz scheint die sich im Nachteil befindenden Kulturen und insbesondere
die kleinen Sprachen eher zu beschützen, als zu vernichten. Wie Geoffrey
Nunberg in der bereits angeführten Economist-Nummer sagte:
"Während eines halbstündigen Spazierganges rund ums Netz fand
ich neulich Diskussionsgruppen in mehr als sechzig Sprachen, worauf ich
aufhörte zu zählen. ... Wenn man den Leuten eine Chance gibt,
liegt ihnen weniger daran, das Netz in ein Weltforum zu verwandeln, als
zu einem Gartenzaun." [21] Die Diaspora, die Einwanderer,
die durch Grenzen von einander abgeschnittenen ethnischen Minderheiten
- sie alle können nunmehr in intensivem virtuellem Kontakt bleiben.
Auch aus dieser Perspektive gesehen verliert also der Nationalstaat zunehmend
die Kontrolle. [22]
Keine virtuelle Gemeinschaft besitzt indessen die kohäsive
Kraft von wirklichen Gemeinschaften. Gérard Raulets Studie aus den
achtziger Jahren, "Die neue Utopie", [23] hat eindringlich
auf die Kluft zwischen symbolischer "Interaktivität" und reeller
gemeinschaftlicher Interaktion hingewiesen. Virtuelle Kommunikation
setzt wirkliche Grundlagen voraus: die Bürger des McLuhanschen "globalen
Dorfes" müssen letzten Endes auch Mitglieder tatsächlicher Gemeinschaften
sein. Solche Gemeinschaften sind, unter anderem, die wirklichen Dorfgemeinden.
Ich bin hiermit bei meinem Thema lokale Gemeinschaften angelangt.
Zugegeben, daß Lokalitäten gesellschaftliche Konstruktionen
sind: besitzen nicht die Örtlichkeit, das physische Territorium, dennoch
eine besondere Bedeutung im Leben der Gruppe und des Einzelnen? Eine solche
Bedeutung ergibt sich aus dem Umstand, daß der physische Rahmen des
alltäglichen Daseins zum Teil eben ortsgebunden ist und sich nur durch
dauerhafte ortsbezogene Anstrengung errichten und aufrechterhalten lässt.
Gebäude, Straßen, Kanalisation; die Wasserqualität
des Teichs; eine Gegend mit niedriger Kriminalität; aber auch die
Population - des näheren die Leute, die man dort kennt, mit denen
man verkehrt; die Sprache; und natürlich die eigene Geschichte, die
einen mit dem Ort verknüpft. Dies alles sind relative Konstante in
einem Fluß des sich global-gesellschaftlich ständig Wechselnden.
Um solche Konstante geht es, wenn man von Ortsgemeinde und Lokalpolitik
spricht. Wie verändert sich die Dorfgemeinde, wenn eine maßgebliche
Proportion ihrer Mitglieder zum Benutzer des weltweiten Computernetzes
wird?
Die Antwort überrascht. Die Vernetzung nach außen
stärkt die Kohäsion nach innen. Denn erstens verbessern sich
die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten an Ort und Stelle [24]
- damit verringern sich die auf die Gemeinde wirkenden zentrifugalen Kräfte.
Zweitens erhält die gegebene Lokalität eine erhöhte Signifikanz
dadurch, daß die Geschehnisse der weiten Welt und jene des Ortes
nunmehr unmittelbar aufeinander einwirken können, ohne etwa durch
nationalstaatliche Interessen vermittelt zu werden. Es ist ja nicht von
ungefähr, daß das Aufkommen der globalen Medien mit dem Aufkommen
von lokalem Rundfunk und Fernsehen einhergeht. Drittens ist die Verbindung
nach außen freilich zugleich eine Verbindung nach innen. "Community
networking" heißt heute der große Trend. [25]
Im Dorf bedeutet das zunächst die Einrichtung einer "Telehütte"
oder dergleichen, d.h. eines Gemeindezentrums mit Netzzugang, Terminalen,
Handbüchern und nicht zuletzt Konsultationsmöglichkeiten. Um
solche Zentren entwickelt sich erfahrungsgemäß ein reges Klubleben.
Community networking bedeutet ferner Computerkommunikation unter den einzelnen
Ortsbewohnern. Man muß hier weniger an ortsbezogene Mitteilungen
denken, als vielmehr an den Austausch von Informationen und Dokumenten
allgemeinerer Relevanz. Je mehr Inhalte aber zu gemeinsamen Inhalten werden,
desto enger wird die Kommunikationsgemeinschaft - die hier indessen mit
einer reellen Gemeinschaft zusammenfällt. In größeren Gemeinden
schließlich - in Städten bzw. Regionen - bedeutet community
networking vor allem eine vernetzte, zugängliche, durchsichtige Verwaltung,
und die damit verbundenen schwierigen Lernprozesse auf dem Gebiet der direkten
Demokratie. [26]
Es heißt, wir leben in einer Welt zunehmend ohne
Bindungen. Community networking, und die verschiedenen unter der Bezeichnung
"new localism" [27] zusammenfaßbaren Bewegungen
versprechen eine neue Gemeinschaftlichkeit, neue Bindungen. Letztere dürfen
natürlich nicht mit Bindungen innerhalb von geschlossenen, traditionellen
Gesellschaften verwechselt werden. [28] Die neuen
Bindungen beruhen auf freier und bewußter Wahl. Das heißt aber
nicht, daß sie soziologisch gesehen oberflächlich, psychologisch
gesehen wirkungslos sein müßten.
Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich einen Aufsatz unter
dem Titel "Wittgensteins neuer Traditionalismus" veröffentlicht. [29]
Wittgenstein hätte gezeigt, schrieb ich dort, daß kein begriffliches
Denken ohne Sprache möglich ist, zur Übereinstimmung in der Sprache
aber bereits eine Übereinstimmung in den grundlegenden Urteilen -
und damit in der "Lebensform" - erforderlich sei. Rationalität und
Gemeinschaft setzen die Unantastbarkeit gewisser herkömmlicher Überzeugungen
vor; womit, so meinte ich damals, die Richtigkeit des Traditionalismus
auf neuen, nämlich modernen sprachphilosophischen Grundlagen bewiesen
wäre. Inzwischen habe ich nun erkannt, daß Wittgensteins bezügliche
Argumente nur im Kontext der gesprochenen, nicht aber in jenem der geschriebenen
Sprache gültig sind. [30] Tradition ist eine
funktionale Einrichtung der Wissensaufbewahrung in präliteralen Kulturen.
[31] Die Schrift- bzw. Buchkultur hat die Macht der
Tradition gebrochen - ermöglichte eine kritisch-kognitive Distanz
zu überlieferten Texten - , führte aber zur abstrakt-isolierenden
Rationalität. Durch die multimediale Computervernetzung verfügt
man einerseits über eine riesige Masse von vergleichbaren Inhalten
- die kritische Einstellung wird nicht geschwächt, sondern gestärkt
- , wird aber andererseits nicht aus dem lebendigen Zusammenhang der Kommunikation
gerissen. Vernetzung hat das Potential, communio und ratio
miteinander auf einer neuen Ebene zu verschmelzen.
*Diese
Arbeit wurde vom Research Support Scheme des OSI/HESP unterstützt,
Stipendium Nr.: 1067/1997.
[1] Bahnbrechend hierzu ist Karl W.
Deutsch, Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations
of Nationality, New York: John Wiley & Sons, 1953. Grundlegend
auch Ernest Gellner, "Nationalism", in seinem Band Thought and Change,
London: Weidenfeld and Nicolson, 1964, ferner Gellners Buch Nations
and Nationalism, Ithaca: Cornell University Press, 1983. Die Beziehung
Gellners zu Deutsch ist zwiespältig; einige Bemerkungen zu dieser
Beziehung, sowie eine Übersicht der wichtigsten Ansätze zum Fragenkomplex
des Nationalismus finden sich in meinem Vorwort zu J.C. Nyíri, Hrsg.,
Nationalism and Social Science (Studies in East European Thought,
Bd.46, Nr.1-2, Juni 1994).
[2] Dies ist die Deutung von Geoffrey
Nunberg, "The Places of Books in the Age of Electronic Reproduction", Representations,
Spring 1993 (42), Sondernummer: Future Libraries, hrsg. von
R. Howard Bloch und Carla Hesse, S.26f.
[3] London: Verso, 1983, umgearbeitete
Ausg. London: Verso, 1991. Eine Art von Pendant zu Andersons Buch ist bekanntlich
Eric Hobsbawm -- Terence Ranger, Hrsg.,
The Invention of Tradition,
Cambridge University Press, 1983.
[4] Anderson, umgearbeitete Ausg.,
S.35.
[5] Schriften, hrsg. von W.
Golther, Berlin: Deutsches Verlagshaus, o.J., Bd.9, S.115f.
[6] Friedrich Nietzsche, Jenseits
von Gut und Böse, §247.
[7] Friedrich Nietzsche, Sämtliche
Werke: Kritische Studienausgabe, dtv - de Gruyter, 1980, Bd.5, S.365
(Zur Genealogie der Moral).
[9] Nietzsche war extrem kurzsichtig
und schaffte bald nur noch das Niederschreiben von kurzen Aphorismen, die
er vorher laut vor sich formulieren und im Gedächtnis zu behalten
versuchte. In diesem Zusammenhang spricht er von seinem "verwünschten
Telegrammenstil" (Brief an Köselitz, Nov. 5, 1879).
[10] Vgl. insb. Daniel J. Czitrom,
Media and the American Mind: From Morse to McLuhan, Chapel Hill:
University of North Carolina Press, 1982, S.6-12. Lehrreich ist auch Carolyn
Marvin, When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication
in the Late Nineteenth Century, New York: Oxford University Press,
1988.
[11] "Society not only continues
to exist by transmission, by communication, but it may fairly
be said to exist in transmission, in communication. There
is more than a verbal tie between the words common, community, and communication.
Men live in a community in virtue of the things they have in common; and
communication is the way in which they come to possess things in common",
John Dewey, Democracy and Education, New York: Macmillan Co., 1915,
S.4.
[12] "The Great Community, in the
sense of free and full intercommunication, is conceivable. But it can never
possess all the qualities which make a local community", John Dewey, The
Public and Its Problems (1927), zitiert bei Czitrom, a.a.O, S.11f.
[13] Wobei sich ein interessantes
Vorspiel bereits im Wien der Nachkriegszeit ereignete. Hier veröffentlichte
Robert Musil 1923 seine Spengler-Besprechung, in der er die Gegenüberstellung
Kultur/Zivilisation - eine Parallele der Gegenüberstellung Gemeinschaft/Gesellschaft
- aus kommunikationstechnologischer Sicht aufzulösen versuchte. "Das
Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen [ist] die Hauptursache des
Übergangs von Kultur in Zivilisation", schrieb Musil. "Es ist klar,
daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben
stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen
zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des
sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse
nicht mehr entspricht. ... Keine Initiative vermag den sozialen Körper
auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung
von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte
auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß
er zur Wirkung käme." (Musil, "Geist und Erfahrung. Anmerkungen für
Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind",
Gesammelte
Werke in neun Bänden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978, Bd.8,
S.1057f.) In Musils Gesellschaft verkehrte zu dieser Zeit der ungarische
Schriftsteller Béla Balázs, der neunzehnhundertvierundzwanzig
ein einflußreiches Buch über die Theorie des Films publizierte
(Der sichtbare Mensch). Und eben im Film - in der
neuen Volkskunst
- meinte Balázs jenes Medium zu erblicken, welches die durch den
Buchdruck entstandene Kommunikationskluft wieder zu schließen vermag.
"Die ganze Menschheit ist heute schon dabei", schrieb Balázs, "die
vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen.
... Der Mensch wird wieder sichtbar werden. - ... die Gebärdensprache
ist die eigentliche Muttersprache der Menschheit." (Balázs, Schriften
zum Film I-II, Bd.I: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze
1922-1926, Budapest: Akadémiai Kiadó, 1982, S.53.) Es
ist bemerkenswert, daß Balázs später u.a. von Marshall
McLuhan und sein Kreis in Toronto rezipiert wurde.
[14] Jack Goody, Hrsg., Literalität
in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S.97.
[15] "[W]ith telephone, radio, television
and various kinds of sound tape", schreibt Ong, "electronic technology
has brought us into the age of »secondary orality«. This new
orality has striking resemblances to the old in its participatory mystique,
its fostering of a communal sense, its concentration on the present moment,
and even its use of formulas... But it is essentially a more deliberate
and self-conscious orality, based permanently on the use of writing and
print, which are essential for the manufacture and operation of the equipment
and for its use as well." (Walter J. Ong, Orality and Literacy: The
Technologizing of the Word, London: Methuen, 1982, S.136.)
[16] Zu den Klassikern gehören
Peter F. Drucker, Landmarks of Tomorrow, New York: Harper &
Brothers, 1959; Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society:
A Venture in Social Forecasting, New York: Basic Books, 1973; Anthony
Giddens,
The Nation-State and Violence, Berkeley: University of
California Press, 1985; John A. Hall, Hrsg., States in History,
Oxford: Basil Blackwell, 1986; Eric Hobsbawm,
Nations and Nationalism
since 1780: Programme, Myth, Reality, Cambridge University Press, 1990;
Ch. Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990-1990,
Oxford: Blackwell, 1990; Stephen Toulmin, Cosmopolis: The Hidden Agenda
of Modernity, New York: The Free Press, 1990. Zu der aktuellen Welle
rechne ich R. Reich, The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st-Century
Capitalism, New York: Alfred A. Knopf, 1991; Walter B. Wriston, The
Twilight of Sovereignty, New York: Charles Scribner's Sons, 1992; Z.
Mlinar, Hrsg.,
Globalization and Territorial Identities, Aldershot:
Avebury, 1992; Eli Noam,
Telecommunications in Europe, New York:
Oxford University Press, 1992; Peter Drucker, Post-capitalist Society,
Oxford: Butterworth-Heinemann, 1993; David Held, Hrsg., Prospects for
Democracy: North, South, East, West, Cambridge: Polity Press, 1993;
Martin Carnoy -- Manuel Castells -- Stephen S. Cohen -- Fernando Henrique
Cardoso, The New Global Economy in the Information Age: Reflections
on Our Changing World, University Park, PA: The Pennsylvania State
University Press, 1993; Hendrik Spruyt, The Sovereign State and Its
Competitors: An Analysis of Systems Change, Princeton: Princeton University
Press, 1994; Ian Angell, "The Information Revolution and the Death of the
Nation State", LSE Magazine, Sommer 1995; Monroe E. Price, Television,
the Public Sphere, and National Identity, Oxford: Clarendon Press,
1995; David Held, Democracy and the Global Order: From the Modern State
to Cosmopolitan Governance, Cambridge: Polity Press / Stanford: Stanford
University Press, 1995; D. Massey -- P. Jess, Hrsg., A Place in the
World? Culture, Places and Globalization, Oxford: Oxford University
Press, 1995, sowie James Anderson -- Chris Brook -- Allan Cochrane, Hrsg.,
A Global World? Re-ordering Political Space, Oxford: Oxford University
Press, 1995 (zwei Lehrbücher der Open University); Lester C. Thurow,
The Future of Capitalism: How Today's Economic Forces Shape Tomorrow's
World, New York: William Morrow and Company, 1996; Manuel Castells,
The Information Age: Economy, Society and Culture (vol.I: The
Rise of the Network Society, Oxford: Blackwell, 1996; vol.II: The
Power of Identity, 1997; vol.III:
End of Millennium, 1998).
[17] "As with everything else, knowledge
and skills will move around the world - but slower than anything else.
Education and training take a long time to complete, and many of the relevant
skills are not those taught in formal educational institutions but the
process skills that can only be learned in a production environment." (Lester
C. Thurow, The Future of Capitalism, New York: William Morrow and
Company, 1996, S.74.)
[18] "The state does not disappear.
It is simply downsized in the Information Age. It proliferates under the
form of local and regional governments, which dot the world with their
projects, build up constituencies, and negotiate with national governments,
multinational corporations, and international agencies. The era of globalization
of the economy is also the era of localization of polity. What local and
regional governments lack in power and resources, they make up in flexibility
and networking. They are the only match, if any, to the dynamism of global
networks of wealth and information." (Manuel Castells, The Information
Age: Economy, Society and Culture, vol.III: End of Millennium,
Oxford: Blackwell, 1998, S.357f.)
[19] Besonders tiefschürfende
Analysen finden sich hierzu in Zdravko Mlinar, Hrsg.,
Globalization
and Territorial Identities, Aldershot: Avebury, 1992, vgl. auch Doreen
Massey und Pat Jess, Hrsg., A Place in the World? Culture, Places and
Globalization, Oxford: Oxford University Press, 1995.
[20] D. Massey, "A Global Sense of
Place", Marxism Today, June 1991, S.28.
[21] "In half an hour's wandering
around the Net the other day I found discussion groups in more than 60
languages, at which point I stopped counting. ... If you give people a
chance, they are less interested in turning the Net into a world forum
than a backyard fence." Zitiert in: The Economist, 21. Dez. 1996,
S.48.
[22] Vgl. insb. Stanley D. Brunn
- Jeffery A. Jones - Darren Purcell, "Ethnic Communities in the Evolving
»Electronic« State: Cyberplaces in Cyberspace", in: Werner
A. Galusser, Hrsg., Political Boundaries and Coexistence, Bern:
Peter Lang, 1994.
[23] G. Raulet, "Die neue Utopie.
Die soziologische und philosophische Bedeutung der neuen Kommunikationstechnologien",
in: M. Frank - G. Raulet - W. van Reijen, Hrsg., Die Frage nach dem
Subjekt, Frankfurt/M.: 1988. "[D]ie neuen »Kommunikations«mittel",
schreibt Raulet, "[bedeuten] nicht notgedrungen eine Bereicherung und Konsolidierung
der individuellen und sozialen Identität ..., sondern [können]
sie auch aushöhlen ..., indem sie schwebende Identitäten und
anomische Verhaltensweisen mit sich bringen", S.283f.
[24] Vgl. z. B. S. Challis, M. Oatley
und H. Tolley, "Widening Access in Rural Communities", in: Judy Frankl
and Beryl O'Reilly, Hrsg., Lifelong Learning, Open Learning, Distance
Learning, Milton Keynes: EDEN, 1996.
[25] Ein Hinweis von den unzählig
vielen möglichen: Die Web-Adresse etwa der Seattle Community Network,
mit vielen weiteren Verbindungen, lautet: http://www.scn.org/. Die Website
(englische Version) der Hungarian Telecottage Association ist: http://foobar.szabinet.hu/www2/telecottages/index_e.html.
[26] Siehe hierzu insb. Douglas Schuler,
New Community Networks: Wired for Change, New York: ACM Press /
Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1996. Schuler beschreibt u.a. die Erfahrungen
mit dem Public Electronic Network (PEN) in Santa Monica.
[27] Ausgezeichnete Beobachtungen
hierzu insb. bei Raimondo Strassoldo. Wie er schreibt: "Post-modernism
is ... marked by a revival of localism. Localism represents one of the
possible ways out of anomy, alienation and identity loss, typical of modernity.
The New Localism is the search for a refuge from the unsettling confusion
of the larger world. ... Post-modern man/woman, just because he/she is
so deeply embedded in global information flows, may feel the need to revive
small enclaves of familiarity, intimacy, security, intelligibility, organic-sensous
interaction... The easy access of the whole world, with just a little time
and money, gives new meaning to the need of a subjective center - a home,
a community, a locale - from which to move and to which to return and rest.
... Of course ... neo-localism is different from old localism. The essential
differences are two. The first is that while old localism was »primordial«,
unthinking, the new one is the outcome of free will, conscious choice;
the former is »necessary and natural«, the second voluntary
and intentional (rational). The second difference is that the old localism
tended to minimize contacts with the exterior, to maintain a strong closed
boundary, while the new localism is quite aware of the rest of the world,
and is quite open to interactions with it." (Strassoldo, "Globalism and
Localism: Theoretical Reflections and Some Evidence", in: Zdravko Mlinar,
Hrsg., Globalization and Territorial Identities, Aldershot: Avebury,
1992, S.46f.)
[28] Wie etwa Paul Hirst schreibt:
"old and new foci of identity compete to bind individuals' choice of communities
of association - religion, language, gender and ethnicity. For those left
at the bottom these may appear as classes used to; that is, as communities
of fate and resistance. For others, however »traditional« and
communitarian they claim to be, old and new identities are reshaped to
be sources of social solidarity around chosen standards." (Hirst,
"Associational Democracy", in: David Held, ed., Prospects for Democracy:
North, South, East, West, Cambridge: Polity Press, 1993, S.118.) -
Relevant auch Stuart Hall, in Massey--Jess, Hrsg., a.a.O., S.207ff.: "the
diaspora perspective ... breaks with a certain concept of tradition
- the thing which is supposed to link us to our origins in culture, place
and time. In the »closed« version of culture, tradition is
thought of as a one-way transmission belt; an umbilical cord, which connects
us to our culture of origin. Ultimately, if we keep the links pure, they
will lead us back to where we belong. The »closed« version
assumes that the further you get from your origins, the more you are separated
from your »true culture«. It is a linear conception
of culture. In »diaspora« conceptions of culture, the connections
are not linear but circular. We should think of culture as moving, not
in line but through different circuits. ... many, overlapping routes.
... from »roots« to »routes« as a way of thinking
about culture applies not only to the ex-colonized, ex-enslaved, marginalized
peoples of the diasporas but is slowly and unevenly becoming a more general
model of how culture and identity are being reconstructed everywhere in
late modernity."
[29] "Wittgenstein's New Traditionalism",
Acta Philosophica Fennica 28/1-3 (1976), S.503-512.
[30] Vgl. meine Aufsätze "On
Esperanto: Usage and Contrivance in Language", in: Rudolf Haller, Hrsg.,
Wittgenstein - Towards a Re-Evaluation, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky,
1990, Bd.II, S.303-310, sowie "Schriftlichkeit und das Privatsprachenargument",
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40/3 (1992), S.225-236,
beide enthalten in meinem Band Tradition and Individuality: Essays,
Dordrecht: Kluwer, 1992.
[31] Vgl. J.C. Nyíri, Tradition
and Individuality: Essays, Dordrecht: Kluwer, 1992.