J.C. Nyíri (Ungarische Akademie der Wissenschaften):
 

Globale Gesellschaft und lokale Kultur im Zeitalter der Vernetzung*
 [magyarul]


Vortrag gehalten an der Tagung Leibhaft vernetzt: Neue Erfahrungen mit Kommunikationstechnologien, veranstaltet von der Evangelischen Akademie Tutzing, 20. bis 22. März 1998 in Rothenburg o.d.T.

Einleitung
Nation als abstrakte Gemeinschaft
Das Unbehagen in der Buchkultur
Erlösung Kommunikation: Von Dewey zu Ong
Globale Wirtschaft: Funktionsverlust des Nationalstaates
Globalisierung und Lokalisierung
Vernetzung und neue Gemeinschaftlichkeit
 
 

Der Mensch ist ein Produkt kultureller Evolution, die menschliche Umwelt ist von jeher eine Welt von Artefakten. Indessen hat der Mensch auch eine Naturgeschichte, und es ist in diesem Sinne durchaus zulässig, von einer natürlichen menschlichen Lebenswelt zu reden. Der gesellschaftliche Rahmen der natürlichen Lebenswelt des Menschen ist durch unmittelbare persönliche Beziehungen gebildet. Die Ausschließlichkeit solcher Beziehungen kennzeichnete die menschliche Gesellschaft bis vor einigen tausend Jahren; dieselben blieben in Europa vorherrschend bis ins neunzehnte Jahrhundert und sind es in vielen Weltteilen noch heute; sie konstituieren die unerläßliche Umgebung der frühen Kindheitsentwicklung immer und überall. Primärgruppe ist die soziologische Bezeichnung für jene Kreise innerhalb der modernen Gesellschaft, die nach wie vor von persönlicher, face-to-face Kommunikation abhängig sind - wie die Familie oder die Nachbarschaft. Und auch in der neuzeitlich-modernen, in hohem Maße vom abstrakten und unpersönlichen Medium des Buchdruckes bestimmten Welt war es Teil des normalen Daseins des Menschen, Mitglied zahlreicher Primärgruppen zu sein. Allerdings identifiziert sich der moderne Mensch eben auch - oft gar vorwiegend - mit solchen Gruppen, deren Mitglieder einander größtenteils niemals begegnet sind. Hiermit entsteht ein Riß in der Kommunikationsumwelt eines jeden. Die natürlich-multimediale, das ganze Sensorium miteinbeziehende Kommunikation richtet sich auf einen engen Kreis und wird in der Regel auf das Alltägliche, gar Unwichtige, beschränkt, während die als bestimmend empfundenen, sich an die ganze Großgruppe gerichteten Mitteilungen im verkümmerten Medium der keine Interaktivität zulassenden, stummen, linearen, abstrakten Drucksprache erfolgen.
 

Jene Großgruppe, die in der modernen Geschichte des Westens die grundlegende Stellung einnimmt, ist die Nation. Kommunikationstechnologische Entwicklungen, welche bei dem Entstehen der Nation als abstrakte Gemeinschaft eine wesentliche Rolle gespielt haben, bilden das erste Thema meines Vortrags. Zum zweiten werde ich auf gewisse literarische Reaktionen hinweisen, die sich im späten neunzehnten Jahrhundert gegen das Vorherrschen eben dieser Technologien richteten. Allerdings konnte man Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bereits neue - elektrische - Kommunikationstechnologien erblicken: drittens werde ich also von Hoffnungen sprechen, die sich auf diese letzteren bezogen; und zwar möchte ich meine Geschichte hier bis in die neunzehnhundertsiebziger Jahre, etwa bis zur vollen Ausbildung des Walter J. Ong'schen Paradigmas der von ihm so genannten sekundären Mündlichkeit fortführen. Mit den achtziger Jahren erfolgte der Durchbruch der weltweiten Computervernetzung; die zu jener Zeit bereits unverkennbaren, auf eine globale Wirtschaft und Politik hinauslaufenden Prozesse wurden weiter verstärkt. Dies wird dann mein viertes Thema sein: Globalisierung und der Funktionsverlust des Nationalstaates. Der Verlust ist keineswegs ein totaler. Staaten haben heute etwa die dringende Aufgabe - und zur Erfüllung dieser Aufgabe stehen ihnen prinzipiell und im allgemeinen auch die Mittel zur Verfügung - , einerseits auf ihren Territorien einen angemessenen Zugang zum Netz zu sichern, und andererseits ihre Bevölkerungen durch entsprechende Ausbildung in die Lage zu versetzen, diesen Zugang auch verwerten zu können. Freilich ist dies eine Aufgabe, welche nunmehr eben auch von subnationalen staatsähnlichen Entitäten gewährleistet werden kann. Globalisierung und Lokalisierung bedingen einander gegenseitig - dies ist mein fünftes Thema. Und abschließend werde ich dann eben von den Auswirkungen jener Lokalisierung sprechen: von einer neuen Gemeinschaftlichkeit, die durch die weltweite Vernetzung ermöglicht wird; von engen - fast-unmittelbaren - und interaktiv-multimedialen - fast-persönlichen - Beziehungen im globalen virtuellen Raum; und von einer neuen lokalen Gemeinschaftlichkeit.
 

Nation als abstrakte Gemeinschaft
 

Europa im fünfzehnten Jahrhundert war ein Land von unzähligen Sprachen bzw. Dialekten und von unzähligen feudalen Herrschaftskreisen, wobei Sprachgebiete und politische Einflußbereiche nicht einmal zufällig zusammenfielen. Die zentralisierenden Bemühungen der absolutistischen Monarchien im sechzehnten Jahrhundert zielten notgedrungen auch auf eine sprachliche Vereinheitlichung hin - auf eine Vereinheitlichung, ohne welche der Aufbau entsprechend funktioniernder Bürokratien unmöglich gewesen wäre. Mehr aber als durch den politischen Willen wurde das Entstehen der modernen, einheitlichen Nationalsprachen durch die wirtschaftlichen Interessen des Buchdruckes bzw. Buchhandels gefördert. Verleger waren daran interessiert, möglichst hohe Auflagen zu erreichen; sie wendeten sich an ein potentielles Lesepublikum, das kein Latein verstand; sie arbeiteten an der Eliminierung dialektaler Unterschiede in Wortschatz, Grammatik und Schreibweise, um in den entsprechenden Landessprachen eine breite Leserschaft ansprechen zu können. In Deutschland stützte sich das Buchgeschäft bekanntlich auf Luthers Genie - nämlich nicht zuletzt auf sein Sprachgenie.
 

Buchdruck und Buchhandel - das Zeitschriften- und Zeitungswesen miteinbegriffen - liefern also ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von Nationalsprache und Nationalmarkt. Der entscheidende Zusammenhang allerdings ist jener zwischen Nationalsprache und nationalem Arbeitsmarkt. [1] Um als vollwertiges Mitglied der modernen industriellen Gesellschaft gelten zu können, muß der Mensch fähig sein, in den verschiedensten Situationen mit vielerlei Leuten zu kommunizieren und sich insbesondere auf immer neue Arbeitsaufgaben einzustellen. Mit anderen Worten, er muß ein hohes Niveau an kontextfreier kommunikativer Kompetenz besitzen. Diese ließe sich nicht etwa an Dorfschulen, die allein auf sich gestellt sind, erlernen; das Vermitteln einer solchen Kompetenz setzt vielmehr ein ganzes Schulsystem voraus, in welchem alle Lehrer, die nachher an unteren Schulstufen unterrichten sollen, eine einheitliche Ausbildung an höheren Schulen erhalten. Wobei "einheitliche Ausbildung" auch eben Ausbildung in einer einheitlichen Sprache, also in der Nationalsprache bedeutet. An der Spitze der Bildungspyramide befindet sich die nationale Universität als höchste Garantie von Qualität und sprachlich-konzeptueller Einheitlichkeit. Ein solches Schulsystem, ohne das eine moderne Gesellschaft nicht bestehen kann, setzt notwendigerweise den territorialen Nationalstaat als die kleinstmögliche politische Einheit voraus, welche diesem zur Grundlage zu dienen geeignet ist. In der Tat verfügt einzig und allein der moderne Staat über die hier einzusetzenden Mittel und über die hier erforderliche zentrale Gewalt. Die nationale Kultur, die durch den Nationalstaat aufgebaut und gepflegt wird, kann mit Recht die höchste Loyalität derer beanspruchen, die an ihr teilhaben: diese sind es, die auf dem nationalen Arbeitsmarkt den Ausgegrenzten gegenüber monopolistische Vorteile von Möglichkeiten horizontaler Mobilität und auch reelle Chancen vertikaler Mobilität genießen.
 

Nationalität, also Zugehörigkeit zu einer Nation, ist keine naturwüchsige Gegebenheit; sie ist eine geschichtlich-soziologische Konstruktion. Nun ist aber diese Zugehörigkeit eben nur abstrakt-symbolisch erlebbar. Britannien wurde von Samuel Johnson im achtzehnten Jahrhundert als eine "Nation der Leser" bezeichnet; was er damit meinte, war, daß Bücher und Zeitschriften zum hauptsächlichen Träger jenes Gemeinschaftsgefühls geworden waren, durch welches eine nationale Identität überhaupt konstituiert werden konnte. [2] Vor einigen Jahren hat Benedict Anderson zu diesem Thema ein Buch verfaßt: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. [3] Anderson beschreibt hier etwa die Lektüre der Morgenzeitung als eine paradoxe Massenzeremonie: "Dieselbe wird in stiller Einsamkeit ausgeführt, im Versteck des Schädels. ... Doch jeder Kommunikant ist sich bewußt, daß die von ihm vollzogene Zeremonie gleichzeitig durch Tausende (oder Millionen) andere nachgebildet wird, von deren Existenz er überzeugt, von deren Identität er aber nicht die blasseste Ahnung hat." [4] Wahrlich, eine kräftige Metapher der säkularen, imaginären Gemeinschaft.
 

Das Unbehagen in der Buchkultur
 

Wir wollen nun kurz auf Andersons Anspielung auf die "stille Einsamkeit" des Lesens eingehen. Bis ins späte Mittelalter war das laute Lesen die Regel, das lautlose Lesen eine seltene Ausnahme. Dies änderte sich mit der Verbreitung des gedruckten Buches. Der wirkliche Hintergrund von John Locke's Bild eines in der isolierten Einsamkeit seines eigenen Geistes reflektierenden Subjekts ist der stumm, für andere nicht hörbar lesende und also nicht hörbar denkende Mensch. Derjenige, der Mitglied einer Nation als abstrakter Gemeinschaft ist, ist eben als Mitglied der Buchkultur ein einsamer Mensch. Die Reaktion tritt bereits bei Rousseau und Herder ein und erhält eine besonders beeindruckende Formulierung bei Richard Wagner, in seinem berühmten Essay "Beethoven", veröffentlicht achtzehnhundertsiebzig. Ich erlaube mir, hier ein längeres Zitat vorzulesen. "Wollen wir uns ein wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes vorstellen", meinte also Wagner, "so haben wir uns in die Zeiten vor der Erfindung der Schrift und ihrer Aufzeichnung auf Pergament oder Papier zu versetzen. Wir müssen finden, daß hier das ganze Kulturleben geboren worden ist, welches jetzt nur noch als Gegenstand des Nachsinnens oder der zweckmäßigen Anwendung sich forterhält. Hier war denn auch die Poesie nichts anderes als wirkliche Erfindung von Mythen... Die Befähigung hierzu sehen wir in jedem edel gearteten Volke zu eigen, bis zu dem Zeitpunkte, wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt. Von da ab schwindet ihm die poetische Kraft; die bisher wie im steten Naturentwickelungsprozeß lebendig sich gestaltende Sprache verfällt in den Kristallisationsprozeß und erstarrt; die Dichtkunst wird zur Kunst der Ausschmückung der alten, nun nicht mehr neu zu erfindenden Mythen und endigt als Rhetorik und Dialektik. - Nun aber vergegenwärtigen wir uns den Übersprung der Schrift zur Buchdruckerkunst. Aus dem kostbaren geschriebenen Buche las der Hausherr der Familie, den Gästen vor; nun jedoch liest jeder selbst aus dem gedruckten Buche still für sich, und für die Leser schreibt jetzt der Schriftsteller. ... Aber noch konnte der Genius eines Volkes mit dem Buchdrucker sich verständigen, so kläglich ihm der Verkehr auch ankommen mochte; mit der Erfindung der Zeitungen, seit dem vollen Aufblühen des Journalwesens, mußte jedoch dieser gute Geist des Volkes sich gänzlich aus dem Leben zurückziehen. Denn jetzt herrschen nur noch Meinungen, und zwar »Öffentliche«; diese sind für Geld zu haben, wie die öffentlichen Dirnen..." [5]
 

Wagners Unbehagen in der modernen Buchkultur bedeutete bei ihm nicht zugleich ein Durchschauen der Gründe von nationaler Vereinzelung. Anders bei Nietzsche. "Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr", heißt es an einer oftzitierten Stelle aus Jenseits von Gut und Böse, "sondern bloss mit den Augen... Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme... Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte." [6] Nietzsche verbindet die Dominanz der Schriftsprache ganz eindeutig einerseits mit der epistemologischen Wahnvorstellung einer leiblosen Kognition - er spricht von der "alte[n] Begriffs-Fabelei, welche ein »reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss«" postuliert [7] - und andererseits mit dem im tatsächlichen Volksleben eben nicht verwurzelten "nationalen Nervenfieber": er erwähnt "zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische". [8]
 

Erlösung Kommunikation: Von Dewey zu Ong
 

Bekanntlich war die Tageszeitung zu Nietzsches Zeiten bereits stark von der Telegrafie abhängig - Anfang der achtzehnhundertsiebziger Jahre gab es kaum mehr eine Großstadt, die nicht verkabelt war. Nietzsche haßte die Verkürzung und Verflachung der Schriftsprache durch das Telegramm, [9] wobei er aber in der Möglichkeit, daß das Aufkommen der telegrafiebedingten Zeitung der Anfang vom Ende des Zeitalters des Buches sein könnte, ganz klar auch etwas Befreiendes erblickt. Die Erfindung des Telegrafs hat ja bekanntlich geradezu chiliastische Hoffnungen erweckt. Samuel Morse selbst eröffnete achtzehnhundertvierundvierzig zwischen Baltimore und Washington die erste Telegrafenleitung mit der biblischen Frage What hath God wrought?, "Was hat Gott getan?" (Num 23,23) - oder auch: "welche Wunder Gott tut", in der glücklichen Übersetzung der Lutherbibel Standardausgabe.. Eine Erfindung solcher Tragweite, wollte Morse offenbar andeuten, muß geradezu Gottes Fügung sein. Bald dürfte, schrieb er, die ganze Oberfläche Amerikas gleichsam mit Nerven durchwoben werden, welche mit Gedankengeschwindigkeit ein Wissen von allem, was im Lande vor sich geht, verbreiten und in der Tat eine einzige Nachbarschaft schaffen würden. Unzählige Kommentare seiner Landesleute sprachen von der Verheißung der nunmehr im Entstehen begriffenen Einheit von Interessen, der Menschheit als eine eins werdende Seele, und des weltweiten Sieges des Christentums. Man erwartete universellen Frieden und universelle Harmonie. [10]
 

Auf die Verbreitung des Telegrafen folgte die des Telefons ab der achtzehnhundertachtziger, des Rundfunks ab der neunzehnhundertzwanziger und des Fernsehens ab der neunzehnhundertvierziger Jahre - Ereignisse, die die Bedeutung unmittelbarer Kommunikation bzw. persönlicher Präsenz freilich zutiefst verändert haben, auf welche ich hier aber nicht einmal andeutungsweise eingehen kann. Statt dessen möchte ich, kürzer als es angemessen wäre, auf gewisse in breitem Sinne philosophische, jene Ereignisse rezipierende und analysierende Entwicklungen hinweisen. Und zwar zunächst auf einige Anfang des Jahrhunderts verkündete Ideen von zwei, miteinander in enger Verbindung stehenden amerikanischen Denker, nämlich John Dewey und sein Student Charles Horton Cooley. Beide übten einen nachhaltigen Einfluß auf die Gesellschaftstheorie der Kommunikation der folgenden Dezennien aus.
 

Von Dewey stammt die oft angeführte Formulierung: "Gesellschaft existiert nicht nur durch Übermittlung, durch Kommunikation; sondern man kann von ihr sagen, daß sie in der Übermittlung selbst, in der Kommunikation selbst existiert. Es besteht mehr als eine Wortverbindung zwischen den Wörtern common, »etwas gemeinhaben«, community, »Gemeinschaft«, und »Kommunikation«. Menschen leben in Gemeinschaften auf Grund der Dinge, die ihnen gemein sind; und Kommunikation ist der Weg, durch den sie dazu gelangen, Dinge gemein zu haben." [11] Von Cooley stammt der von mir eingangs verwendete Begriff Primärgruppe. Cooley hatte hier eine wichtige Hypothese: Was Gebärde und Rede für die Primärgruppe sichern, meinte er, würden moderne Kommunikationsmittel für die ganze Gesellschaft leisten. Dewey war gegenüber dieser Hypothese eher skeptisch. Ihm zufolge ließe sich die persönliche Intimität der engeren Gemeinschaft kaum auf die breitere Gesellschaft übertragen: "Die »große Gemeinschaft«, Great Community, im Sinne der freien und vollständigen Interkommunikation ist vorstellbar. Aber dieselbe kann niemals all die Eigenschaften besitzen, die eine lokale Gemeinschaft ausmachen." [12] Die lokale Nachbarschaft sei eben die Umwelt, meinte Dewey, in welcher sich mündliche Mitteilung und gesamtgesellschaftliche Kommunikation - er dachte damit vor allem an die gedruckte Sprache - gegenseitig ergänzen müßten.
 

Die Entthronung des gedruckten Textes erfolgt dann etwa vierzig Jahre später [13] - und zwar nicht nur bei Marshall McLuhan, dessen Werk ich hier als bekannt voraussetze. Nuenzehnhundertdreiundsechzig wurde der inzwischen zum Klassiker gewordene Aufsatz "Konsequenzen der Literalität" von Goody und Watt veröffentlicht, und die Autoren konnten hier bereits auf die Tatsache hinweisen, daß unsere Gegenwart freilich nicht mehr vom Buchdruck, sondern in zunehmendem Maße von den neuen Kommunikationsmedien - sie erwähnen Rundfunk, Film und Fernsehen - beherrscht werde. Diese Medien, meinen Goody und Watt, zeigen nicht mehr "die abstrakte und vereinzelnde Qualität des Lesens und Schreibens", sondern stellen vielmehr eine Wiederkehr der "direkten persönlichen Interaktion" dar. "Es könnte sogar sein", heißt es weiter, "daß diese neuen Kommunikationsmodi, die Bild und Ton ohne jede räumliche und zeitliche Beschränkung übermitteln, zu einer neuen Kultur führen, einer Kultur, die weniger nach innen gewandt und weniger individualistisch sein dürfte als die literale Kultur und die etwas von der relativen Homogenität der nicht-literalen Gesellschaft haben dürfte." [14] McLuhan, Goody-Watt, Milman Parrys Erbe Albert B. Lord und der klassische Philolog Eric Havelock bilden schließlich den Hintergrund von Walter J. Ongs Werk. Ong kommt der Verdienst zu, zwischen den Theorien von postliterarer, literarer und präliterarer Kommunikation eine Synthese geschaffen zu haben. "Mit dem Telefon, Radio und Fernsehen und den diversen Tonbändern", schreibt Ong, "hat uns die elektronische Technologie ins Zeitalter der »sekundären Mündlichkeit« gebracht. Diese neue Mündlichkeit hat verblüffende Ähnlichkeiten mit der alten hinsichtlich partizipatorischen Mystik, Hegung des Gemeinsinnes, ... [und] Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick... Aber dies ist eine wesentlich überlegtere und bewußtere Mündlichkeit, die permanent auf Schrift und Buchdruck angewiesen ist, welche ja auch für die Herstellung, den Betrieb und die Anwendung des Instrumentariums wesentlich sind." [15] Ong hat das Phänomen Computer - nämlich den Textverarbeiter - noch aktiv miterleben, kaum mehr aber tief interiorisieren und eben auch nicht richtig interpretieren können - Digitalisierung impliziert für ihn bloß eine weitere Vergegenständlichung der Sprache. Und zum Netz kenne ich keine Ongschen Reflexionen. Die Konsequenzen der Vernetzung sind in der von Dewey zu Ong führenden Theorie unmittelbar nicht mehr zu deuten. Ich möchte jetzt einen Blick werfen auf diese Konsequenzen in bezug auf den Nationalstaat.
 

Globale Wirtschaft: Funktionsverlust des Nationalstaates
 

Der moderne, zentralisierte, territoriale Nationalstaat verliert zunehmend seine Funktionen. Die Tendenz ist spätestens seit Ende des zweiten Weltkrieges augenscheinlich; sie hat sich besonders seit den achtziger Jahren vertieft und beschleunigt und ist heute eine allgemein anerkannte Tatsache, über die jede Zeitung schreibt und in bezug auf welche eine wahre Flut wissenschaftlicher Literatur entstanden ist bzw. täglich entsteht. Es befinden sich viele brilliante und wirklich tiefschürfende Arbeiten darunter; [16] einige werde ich erwähnen, aber auf die Gesamtproblematik kann ich natürlich nicht eingehen. Uns interessiert hier diese Tendenz aus einer besonderen Perspektive: Aus der Perspektive der Frage, inwieweit der Funktionsverlust des Nationalstaates den Druck auf den Einzelnen vermindert, in unpersönlichen Beziehungen aufgehen zu müssen, um als ein mündiges Mitglied der Gesellschaft gelten zu können.
 

Die ursprüngliche und wichtigste Rolle des Staates von jeher war es: Kriege zu führen. Im nuklearen Zeitalter vermindert sich die Verteidigungsfähigkeit des territorialen Staates beträchtlich. Auch können Territorialstaaten keinen wesentlichen Einfluß mehr auf grenzüberquellende Umweltverschmutzung oder auf grenzunabhängiges Satellitenfernsehen, nationale Zentralbanken auf nationale Währungen, und überhaupt nationale Regierungen auf die wirtschaftlichen Vorgänge in ihrem Lande haben. Die Autorität des modernen Nationalstaates ist nicht erst durch die Computervernetzung erschüttert - wobei letztere freilich zu einer ungeheueren Verstärkung der bereits wirkenden Tendenzen führt.
 

Der Arbeitsmarkt - einmal abgesehen von den von Robert Reich "in-person services" genannten Leistungen - ist global geworden. Die globale Arbeitssprache ist die englische; Spanisch und Französisch besitzen einen immerhin noch breiten regionalen Einfluß. Um sich auf dem Arbeitsmarkt bewähren zu können, muß man also mindestens zweisprachig werden. Wie es in der Weihnachtsnummer des Economist 1996 hieß: "increasingly, people will have two languages: one for doing the shopping and talking to their friends, the other for communicating with the formal world. That language will be English." Wenn aber die Kompetenz für fachlichen Verkehr nicht in der Nationalsprache erfolgen soll, so wird damit auch das einheitliche nationale Schulwesen überflüssig. Höhere Qualifikationen wird man im Rahmen eines globalen, zum Teil virtuellen Hochschulsystems erwerben können; zum Verkehr in der näheren Umgebung genügt eben die Muttersprache, der Dialekt, welcher dann auch sehr wohl lokal gepflegt und in örtlichen Schulen vermittelt werden kann. Damit entfällt eine der wesentlichsten Funktionen des Nationalstaates. Es ist zwar nicht der Fall, daß Bildung und Wissen ortsunabhängig sind. Wie Lester C. Thurow in seinem The Future of Capitalism schreibt: "Wie alles andere, bewegen sich Wissen und Fertigkeiten um die Welt - nur langsamer, als alles andere. Bildung und Ausbildung beanspruchen eine lange Zeit, und viele der relevanten Fertigkeiten werden nicht an formalen Bildungsstätten gelehrt, sondern sind Verfahrensfertigkeiten, die nur in einer Arbeitsumgebung gelernt werden können." [17] Um das globale Kapital anzuziehen und damit Arbeitsplätze, ja möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen, muß sich die territoriale Regierung sowohl um die höhere Ausbildung als auch um Forschung und Entwicklung kümmern. Nur trifft es eben nicht zu, daß die entsprechende Regierung eine nationale sein muß. Kleinere Einheiten können erfolgreicher sein. Manuel Castells verwendet die Begriffe "local state" und "network state", Lokalstaat und Netzwerkstaat, um quasi-autonome subnationale politische Entitäten und deren regionale und globale Verbindungen zu bezeichnen. "Der Staat verschwindet nicht", schreibt Castells. "Er wird einfach reduziert [downsized] im Informationszeitalter. Er wuchert in Form lokaler und regionaler Regierungen, die die Welt mit ihren Projekten übersäen, Wählerschaften aufbauen und mit nationalen Regierungen, multinationalen Gesellschaften und internationalen Organen verhandeln. Das Zeitalter der Globalisation der Wirtschaft ist zugleich das Zeitalter der Lokalisation vom Staatswesen. Was lokalen und regionalen Regierungen an Macht und Mitteln fehlt, gleichen sie an Flexibilität und Vernetztheit aus. Wenn überhaupt noch etwas, sind sie es, die der Dynamik der globalen Netzwerke von Reichtum und Information gewachsen sind."[18]
 

Globalisierung und Lokalisierung
 

Nicht nur im wirtschaftlichen und politischen Sinne, sondern auch ganz allgemein gilt es, daß Globalisierung und Lokalisierung keine Gegensätze sind, sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern geradezu gegenseitig bedingen. [19] Das Globale ist letzten Endes nichts anderes, als eine Verbindung von lokalen Elementen; aber auch das Lokale ist global konstituiert. Die letzte Behauptung mag befremdend klingen. "Lokal" bedeutet ja soviel wie örtlich; und ein Ort, würde man meinen, ist eben geographisch und physisch definiert, nicht etwa durch entfernte Beziehungen bestimmt. Der Schein trügt. Versteht man unter einem "Ort" mehr als die bloßen geodätischen Koordinaten, so läßt sich bald zeigen, daß Örtlichkeiten gesellschaftliche Konstruktionen sind. Das Heimatdorf, die liebliche Kleinstadt oder die schöne Naturlage: sie sind aus Erinnerungen, Bekanntschaften, Aktivitäten und Idealen aufgebaut. Natürlich gehören auch Steine, Flüsse usw. zu ihrer Substanz; aber eine Ruine etwa kann sowohl als Baumaterial als auch als Touristenattraktion aufgefaßt werden, und das Donauknie würde kaum derselbe Ort bleiben, wenn dort jenes umstrittene Kraftwerk doch verwirklicht werden würde. Der Ort läßt sich begrifflich als ein Treffpunkt, als ein Kreuzungspunkt von Aktivitätsräumen, von Verbindungen und gegenwärtigen Beziehungen, von Einflüssen und Bewegungen auffassen. In der Formulierung von Doreen Massey: "Was einem Ort seine Besonderheit gibt, ist... die Tatsache, daß derselbe aus einer besonderen Konstellation von gesellschaftlichen Beziehungen konstruiert ist, die sich an einem besonderen Punkt treffen und kreuzen. ... Orte sollte man sich nicht als umgrenzte Gebiete vorstellen, sondern als artikulierte Momente in Netzwerken von gesellschaftlichen Beziehungen und Auffassungen, wobei sich ein Großteil dieser Beziehungen, Erfahrungen und Auffassungen auf eine weitaus größere Fläche ausdehnt, als der Ort, den wir zu definieren uns gerade entschließen." [20]
 

Vernetzung und neue Gemeinschaftlichkeit
 

Ich habe diese sozial-konstruktivistische Erklärung von Lokalität oder Örtlichkeit, die ich selbst überzeugend finde, möglichst auch überzeugend zu schildern versucht, um mir meine Aufgabe nicht leichter zu machen als sie ist: die Aufgabe, für die Möglichkeit eines neuen Lokalismus zu plädieren. Durch die globale Vernetzung entsteht eine neue Gemeinschaftlichkeit: einerseits im virtuellen Raum - andererseits aber auch im physischen, nämlich im örtlichen.
 

Betrachten wir zunächst den virtuellen Bereich. Unmittelbar fällt hier auf, daß seit der Verbreitung von e-mail die Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, die Freundschaften sowie die im persönlichen Kontakt zustandegekommenen kollegialen Beziehungen weit weniger unter der eventuellen physischen Distanz leiden, als dies früher der Fall war. Und natürlich gibt es die vielen Bekanntschaften, die durch e-mail entstehen und dann zu persönlichen Begegnungen führen. Man sollte hier ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, daß der leidenschaftliche Netzbenutzer in der Wirklichkeit ein Einzelgänger oder gar Sonderling sei. Im Gegenteil: hingebungsvolle virtuelle Aktivität und hingebungsvolle reell-menschliche Tätigkeit gehen erfahrungsgemäß einher.
 

Zweitens läßt sich erkennen, daß das Netz die Möglichkeit zur Existenz von Gemeinschaften bietet, die sonst überhaupt nicht, oder nur mit großen Schwierigkeiten und schwacher Effizienz zustandekommen bzw. fortbestehen könnten: die verschiedensten religiösen oder säkularen Subkulturen, aber auch ethnische Gruppen. Das Netz scheint die sich im Nachteil befindenden Kulturen und insbesondere die kleinen Sprachen eher zu beschützen, als zu vernichten. Wie Geoffrey Nunberg in der bereits angeführten Economist-Nummer sagte: "Während eines halbstündigen Spazierganges rund ums Netz fand ich neulich Diskussionsgruppen in mehr als sechzig Sprachen, worauf ich aufhörte zu zählen. ... Wenn man den Leuten eine Chance gibt, liegt ihnen weniger daran, das Netz in ein Weltforum zu verwandeln, als zu einem Gartenzaun." [21] Die Diaspora, die Einwanderer, die durch Grenzen von einander abgeschnittenen ethnischen Minderheiten - sie alle können nunmehr in intensivem virtuellem Kontakt bleiben. Auch aus dieser Perspektive gesehen verliert also der Nationalstaat zunehmend die Kontrolle. [22]
 

Keine virtuelle Gemeinschaft besitzt indessen die kohäsive Kraft von wirklichen Gemeinschaften. Gérard Raulets Studie aus den achtziger Jahren, "Die neue Utopie", [23] hat eindringlich auf die Kluft zwischen symbolischer "Interaktivität" und reeller gemeinschaftlicher Interaktion hingewiesen. Virtuelle Kommunikation setzt wirkliche Grundlagen voraus: die Bürger des McLuhanschen "globalen Dorfes" müssen letzten Endes auch Mitglieder tatsächlicher Gemeinschaften sein. Solche Gemeinschaften sind, unter anderem, die wirklichen Dorfgemeinden. Ich bin hiermit bei meinem Thema lokale Gemeinschaften angelangt. Zugegeben, daß Lokalitäten gesellschaftliche Konstruktionen sind: besitzen nicht die Örtlichkeit, das physische Territorium, dennoch eine besondere Bedeutung im Leben der Gruppe und des Einzelnen? Eine solche Bedeutung ergibt sich aus dem Umstand, daß der physische Rahmen des alltäglichen Daseins zum Teil eben ortsgebunden ist und sich nur durch dauerhafte ortsbezogene Anstrengung errichten und aufrechterhalten lässt.
 

Gebäude, Straßen, Kanalisation; die Wasserqualität des Teichs; eine Gegend mit niedriger Kriminalität; aber auch die Population - des näheren die Leute, die man dort kennt, mit denen man verkehrt; die Sprache; und natürlich die eigene Geschichte, die einen mit dem Ort verknüpft. Dies alles sind relative Konstante in einem Fluß des sich global-gesellschaftlich ständig Wechselnden. Um solche Konstante geht es, wenn man von Ortsgemeinde und Lokalpolitik spricht. Wie verändert sich die Dorfgemeinde, wenn eine maßgebliche Proportion ihrer Mitglieder zum Benutzer des weltweiten Computernetzes wird?
 

Die Antwort überrascht. Die Vernetzung nach außen stärkt die Kohäsion nach innen. Denn erstens verbessern sich die Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten an Ort und Stelle [24] - damit verringern sich die auf die Gemeinde wirkenden zentrifugalen Kräfte. Zweitens erhält die gegebene Lokalität eine erhöhte Signifikanz dadurch, daß die Geschehnisse der weiten Welt und jene des Ortes nunmehr unmittelbar aufeinander einwirken können, ohne etwa durch nationalstaatliche Interessen vermittelt zu werden. Es ist ja nicht von ungefähr, daß das Aufkommen der globalen Medien mit dem Aufkommen von lokalem Rundfunk und Fernsehen einhergeht. Drittens ist die Verbindung nach außen freilich zugleich eine Verbindung nach innen. "Community networking" heißt heute der große Trend. [25] Im Dorf bedeutet das zunächst die Einrichtung einer "Telehütte" oder dergleichen, d.h. eines Gemeindezentrums mit Netzzugang, Terminalen, Handbüchern und nicht zuletzt Konsultationsmöglichkeiten. Um solche Zentren entwickelt sich erfahrungsgemäß ein reges Klubleben. Community networking bedeutet ferner Computerkommunikation unter den einzelnen Ortsbewohnern. Man muß hier weniger an ortsbezogene Mitteilungen denken, als vielmehr an den Austausch von Informationen und Dokumenten allgemeinerer Relevanz. Je mehr Inhalte aber zu gemeinsamen Inhalten werden, desto enger wird die Kommunikationsgemeinschaft - die hier indessen mit einer reellen Gemeinschaft zusammenfällt. In größeren Gemeinden schließlich - in Städten bzw. Regionen - bedeutet community networking vor allem eine vernetzte, zugängliche, durchsichtige Verwaltung, und die damit verbundenen schwierigen Lernprozesse auf dem Gebiet der direkten Demokratie. [26]
 

Es heißt, wir leben in einer Welt zunehmend ohne Bindungen. Community networking, und die verschiedenen unter der Bezeichnung "new localism" [27] zusammenfaßbaren Bewegungen versprechen eine neue Gemeinschaftlichkeit, neue Bindungen. Letztere dürfen natürlich nicht mit Bindungen innerhalb von geschlossenen, traditionellen Gesellschaften verwechselt werden. [28] Die neuen Bindungen beruhen auf freier und bewußter Wahl. Das heißt aber nicht, daß sie soziologisch gesehen oberflächlich, psychologisch gesehen wirkungslos sein müßten.
 

Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich einen Aufsatz unter dem Titel "Wittgensteins neuer Traditionalismus" veröffentlicht. [29] Wittgenstein hätte gezeigt, schrieb ich dort, daß kein begriffliches Denken ohne Sprache möglich ist, zur Übereinstimmung in der Sprache aber bereits eine Übereinstimmung in den grundlegenden Urteilen - und damit in der "Lebensform" - erforderlich sei. Rationalität und Gemeinschaft setzen die Unantastbarkeit gewisser herkömmlicher Überzeugungen vor; womit, so meinte ich damals, die Richtigkeit des Traditionalismus auf neuen, nämlich modernen sprachphilosophischen Grundlagen bewiesen wäre. Inzwischen habe ich nun erkannt, daß Wittgensteins bezügliche Argumente nur im Kontext der gesprochenen, nicht aber in jenem der geschriebenen Sprache gültig sind. [30] Tradition ist eine funktionale Einrichtung der Wissensaufbewahrung in präliteralen Kulturen. [31] Die Schrift- bzw. Buchkultur hat die Macht der Tradition gebrochen - ermöglichte eine kritisch-kognitive Distanz zu überlieferten Texten - , führte aber zur abstrakt-isolierenden Rationalität. Durch die multimediale Computervernetzung verfügt man einerseits über eine riesige Masse von vergleichbaren Inhalten - die kritische Einstellung wird nicht geschwächt, sondern gestärkt - , wird aber andererseits nicht aus dem lebendigen Zusammenhang der Kommunikation gerissen. Vernetzung hat das Potential, communio und ratio miteinander auf einer neuen Ebene zu verschmelzen.
 
 


ANMERKUNGEN
 

*Diese Arbeit wurde vom Research Support Scheme des OSI/HESP unterstützt, Stipendium Nr.: 1067/1997.
 

[1] Bahnbrechend hierzu ist Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality, New York: John Wiley & Sons, 1953. Grundlegend auch Ernest Gellner, "Nationalism", in seinem Band Thought and Change, London: Weidenfeld and Nicolson, 1964, ferner Gellners Buch Nations and Nationalism, Ithaca: Cornell University Press, 1983. Die Beziehung Gellners zu Deutsch ist zwiespältig; einige Bemerkungen zu dieser Beziehung, sowie eine Übersicht der wichtigsten Ansätze zum Fragenkomplex des Nationalismus finden sich in meinem Vorwort zu J.C. Nyíri, Hrsg., Nationalism and Social Science (Studies in East European Thought, Bd.46, Nr.1-2, Juni 1994).
 

[2] Dies ist die Deutung von Geoffrey Nunberg, "The Places of Books in the Age of Electronic Reproduction", Representations, Spring 1993 (42), Sondernummer: Future Libraries, hrsg. von R. Howard Bloch und Carla Hesse, S.26f.
 

[3] London: Verso, 1983, umgearbeitete Ausg. London: Verso, 1991. Eine Art von Pendant zu Andersons Buch ist bekanntlich Eric Hobsbawm -- Terence Ranger, Hrsg., The Invention of Tradition, Cambridge University Press, 1983.
 

[4] Anderson, umgearbeitete Ausg., S.35.
 

[5] Schriften, hrsg. von W. Golther, Berlin: Deutsches Verlagshaus, o.J., Bd.9, S.115f.
 

[6] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, §247.
 

[7] Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe, dtv - de Gruyter, 1980, Bd.5, S.365 (Zur Genealogie der Moral).
 

[8] Jenseits, §251.
 

[9] Nietzsche war extrem kurzsichtig und schaffte bald nur noch das Niederschreiben von kurzen Aphorismen, die er vorher laut vor sich formulieren und im Gedächtnis zu behalten versuchte. In diesem Zusammenhang spricht er von seinem "verwünschten Telegrammenstil" (Brief an Köselitz, Nov. 5, 1879).
 

[10] Vgl. insb. Daniel J. Czitrom, Media and the American Mind: From Morse to McLuhan, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1982, S.6-12. Lehrreich ist auch Carolyn Marvin, When Old Technologies Were New: Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York: Oxford University Press, 1988.
 

[11] "Society not only continues to exist by transmission, by communication, but it may fairly be said to exist in transmission, in communication. There is more than a verbal tie between the words common, community, and communication. Men live in a community in virtue of the things they have in common; and communication is the way in which they come to possess things in common", John Dewey, Democracy and Education, New York: Macmillan Co., 1915, S.4.
 

[12] "The Great Community, in the sense of free and full intercommunication, is conceivable. But it can never possess all the qualities which make a local community", John Dewey, The Public and Its Problems (1927), zitiert bei Czitrom, a.a.O, S.11f.
 

[13] Wobei sich ein interessantes Vorspiel bereits im Wien der Nachkriegszeit ereignete. Hier veröffentlichte Robert Musil 1923 seine Spengler-Besprechung, in der er die Gegenüberstellung Kultur/Zivilisation - eine Parallele der Gegenüberstellung Gemeinschaft/Gesellschaft - aus kommunikationstechnologischer Sicht aufzulösen versuchte. "Das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen [ist] die Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation", schrieb Musil. "Es ist klar, daß hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andre Aufgaben stellt als hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für Einflüsse nicht mehr entspricht. ... Keine Initiative vermag den sozialen Körper auf weitere Strecken zu durchdringen und empfängt Rückwirkung von seiner Totalität. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme." (Musil, "Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind", Gesammelte Werke in neun Bänden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978, Bd.8, S.1057f.) In Musils Gesellschaft verkehrte zu dieser Zeit der ungarische Schriftsteller Béla Balázs, der neunzehnhundertvierundzwanzig ein einflußreiches Buch über die Theorie des Films publizierte (Der sichtbare Mensch). Und eben im Film - in der neuen Volkskunst - meinte Balázs jenes Medium zu erblicken, welches die durch den Buchdruck entstandene Kommunikationskluft wieder zu schließen vermag. "Die ganze Menschheit ist heute schon dabei", schrieb Balázs, "die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebärden wieder zu erlernen. ... Der Mensch wird wieder sichtbar werden. - ... die Gebärdensprache ist die eigentliche Muttersprache der Menschheit." (Balázs, Schriften zum Film I-II, Bd.I: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922-1926, Budapest: Akadémiai Kiadó, 1982, S.53.) Es ist bemerkenswert, daß Balázs später u.a. von Marshall McLuhan und sein Kreis in Toronto rezipiert wurde.
 

[14] Jack Goody, Hrsg., Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S.97.
 

[15] "[W]ith telephone, radio, television and various kinds of sound tape", schreibt Ong, "electronic technology has brought us into the age of »secondary orality«. This new orality has striking resemblances to the old in its participatory mystique, its fostering of a communal sense, its concentration on the present moment, and even its use of formulas... But it is essentially a more deliberate and self-conscious orality, based permanently on the use of writing and print, which are essential for the manufacture and operation of the equipment and for its use as well." (Walter J. Ong, Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, London: Methuen, 1982, S.136.)
 

[16] Zu den Klassikern gehören Peter F. Drucker, Landmarks of Tomorrow, New York: Harper & Brothers, 1959; Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting, New York: Basic Books, 1973; Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Berkeley: University of California Press, 1985; John A. Hall, Hrsg., States in History, Oxford: Basil Blackwell, 1986; Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780: Programme, Myth, Reality, Cambridge University Press, 1990; Ch. Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990-1990, Oxford: Blackwell, 1990; Stephen Toulmin, Cosmopolis: The Hidden Agenda of Modernity, New York: The Free Press, 1990. Zu der aktuellen Welle rechne ich R. Reich, The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, New York: Alfred A. Knopf, 1991; Walter B. Wriston, The Twilight of Sovereignty, New York: Charles Scribner's Sons, 1992; Z. Mlinar, Hrsg., Globalization and Territorial Identities, Aldershot: Avebury, 1992; Eli Noam, Telecommunications in Europe, New York: Oxford University Press, 1992; Peter Drucker, Post-capitalist Society, Oxford: Butterworth-Heinemann, 1993; David Held, Hrsg., Prospects for Democracy: North, South, East, West, Cambridge: Polity Press, 1993; Martin Carnoy -- Manuel Castells -- Stephen S. Cohen -- Fernando Henrique Cardoso, The New Global Economy in the Information Age: Reflections on Our Changing World, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press, 1993; Hendrik Spruyt, The Sovereign State and Its Competitors: An Analysis of Systems Change, Princeton: Princeton University Press, 1994; Ian Angell, "The Information Revolution and the Death of the Nation State", LSE Magazine, Sommer 1995; Monroe E. Price, Television, the Public Sphere, and National Identity, Oxford: Clarendon Press, 1995; David Held, Democracy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan Governance, Cambridge: Polity Press / Stanford: Stanford University Press, 1995; D. Massey -- P. Jess, Hrsg., A Place in the World? Culture, Places and Globalization, Oxford: Oxford University Press, 1995, sowie James Anderson -- Chris Brook -- Allan Cochrane, Hrsg., A Global World? Re-ordering Political Space, Oxford: Oxford University Press, 1995 (zwei Lehrbücher der Open University); Lester C. Thurow, The Future of Capitalism: How Today's Economic Forces Shape Tomorrow's World, New York: William Morrow and Company, 1996; Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture (vol.I: The Rise of the Network Society, Oxford: Blackwell, 1996; vol.II: The Power of Identity, 1997; vol.III: End of Millennium, 1998).
 

[17] "As with everything else, knowledge and skills will move around the world - but slower than anything else. Education and training take a long time to complete, and many of the relevant skills are not those taught in formal educational institutions but the process skills that can only be learned in a production environment." (Lester C. Thurow, The Future of Capitalism, New York: William Morrow and Company, 1996, S.74.)
 

[18] "The state does not disappear. It is simply downsized in the Information Age. It proliferates under the form of local and regional governments, which dot the world with their projects, build up constituencies, and negotiate with national governments, multinational corporations, and international agencies. The era of globalization of the economy is also the era of localization of polity. What local and regional governments lack in power and resources, they make up in flexibility and networking. They are the only match, if any, to the dynamism of global networks of wealth and information." (Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture, vol.III: End of Millennium, Oxford: Blackwell, 1998, S.357f.)
 

[19] Besonders tiefschürfende Analysen finden sich hierzu in Zdravko Mlinar, Hrsg., Globalization and Territorial Identities, Aldershot: Avebury, 1992, vgl. auch Doreen Massey und Pat Jess, Hrsg., A Place in the World? Culture, Places and Globalization, Oxford: Oxford University Press, 1995.
 

[20] D. Massey, "A Global Sense of Place", Marxism Today, June 1991, S.28.
 

[21] "In half an hour's wandering around the Net the other day I found discussion groups in more than 60 languages, at which point I stopped counting. ... If you give people a chance, they are less interested in turning the Net into a world forum than a backyard fence." Zitiert in: The Economist, 21. Dez. 1996, S.48.
 

[22] Vgl. insb. Stanley D. Brunn - Jeffery A. Jones - Darren Purcell, "Ethnic Communities in the Evolving »Electronic« State: Cyberplaces in Cyberspace", in: Werner A. Galusser, Hrsg., Political Boundaries and Coexistence, Bern: Peter Lang, 1994.
 

[23] G. Raulet, "Die neue Utopie. Die soziologische und philosophische Bedeutung der neuen Kommunikationstechnologien", in: M. Frank - G. Raulet - W. van Reijen, Hrsg., Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M.: 1988. "[D]ie neuen »Kommunikations«mittel", schreibt Raulet, "[bedeuten] nicht notgedrungen eine Bereicherung und Konsolidierung der individuellen und sozialen Identität ..., sondern [können] sie auch aushöhlen ..., indem sie schwebende Identitäten und anomische Verhaltensweisen mit sich bringen", S.283f.
 

[24] Vgl. z. B. S. Challis, M. Oatley und H. Tolley, "Widening Access in Rural Communities", in: Judy Frankl and Beryl O'Reilly, Hrsg., Lifelong Learning, Open Learning, Distance Learning, Milton Keynes: EDEN, 1996.
 

[25] Ein Hinweis von den unzählig vielen möglichen: Die Web-Adresse etwa der Seattle Community Network, mit vielen weiteren Verbindungen, lautet: http://www.scn.org/. Die Website (englische Version) der Hungarian Telecottage Association ist: http://foobar.szabinet.hu/www2/telecottages/index_e.html.
 

[26] Siehe hierzu insb. Douglas Schuler, New Community Networks: Wired for Change, New York: ACM Press / Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1996. Schuler beschreibt u.a. die Erfahrungen mit dem Public Electronic Network (PEN) in Santa Monica.
 

[27] Ausgezeichnete Beobachtungen hierzu insb. bei Raimondo Strassoldo. Wie er schreibt: "Post-modernism is ... marked by a revival of localism. Localism represents one of the possible ways out of anomy, alienation and identity loss, typical of modernity. The New Localism is the search for a refuge from the unsettling confusion of the larger world. ... Post-modern man/woman, just because he/she is so deeply embedded in global information flows, may feel the need to revive small enclaves of familiarity, intimacy, security, intelligibility, organic-sensous interaction... The easy access of the whole world, with just a little time and money, gives new meaning to the need of a subjective center - a home, a community, a locale - from which to move and to which to return and rest. ... Of course ... neo-localism is different from old localism. The essential differences are two. The first is that while old localism was »primordial«, unthinking, the new one is the outcome of free will, conscious choice; the former is »necessary and natural«, the second voluntary and intentional (rational). The second difference is that the old localism tended to minimize contacts with the exterior, to maintain a strong closed boundary, while the new localism is quite aware of the rest of the world, and is quite open to interactions with it." (Strassoldo, "Globalism and Localism: Theoretical Reflections and Some Evidence", in: Zdravko Mlinar, Hrsg., Globalization and Territorial Identities, Aldershot: Avebury, 1992, S.46f.)
 

[28] Wie etwa Paul Hirst schreibt: "old and new foci of identity compete to bind individuals' choice of communities of association - religion, language, gender and ethnicity. For those left at the bottom these may appear as classes used to; that is, as communities of fate and resistance. For others, however »traditional« and communitarian they claim to be, old and new identities are reshaped to be sources of social solidarity around chosen standards." (Hirst, "Associational Democracy", in: David Held, ed., Prospects for Democracy: North, South, East, West, Cambridge: Polity Press, 1993, S.118.) - Relevant auch Stuart Hall, in Massey--Jess, Hrsg., a.a.O., S.207ff.: "the diaspora perspective ... breaks with a certain concept of tradition - the thing which is supposed to link us to our origins in culture, place and time. In the »closed« version of culture, tradition is thought of as a one-way transmission belt; an umbilical cord, which connects us to our culture of origin. Ultimately, if we keep the links pure, they will lead us back to where we belong. The »closed« version assumes that the further you get from your origins, the more you are separated from your »true culture«. It is a linear conception of culture. In »diaspora« conceptions of culture, the connections are not linear but circular. We should think of culture as moving, not in line but through different circuits. ... many, overlapping routes. ... from »roots« to »routes« as a way of thinking about culture applies not only to the ex-colonized, ex-enslaved, marginalized peoples of the diasporas but is slowly and unevenly becoming a more general model of how culture and identity are being reconstructed everywhere in late modernity."
 

[29] "Wittgenstein's New Traditionalism", Acta Philosophica Fennica 28/1-3 (1976), S.503-512.
 

[30] Vgl. meine Aufsätze "On Esperanto: Usage and Contrivance in Language", in: Rudolf Haller, Hrsg., Wittgenstein - Towards a Re-Evaluation, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1990, Bd.II, S.303-310, sowie "Schriftlichkeit und das Privatsprachenargument", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40/3 (1992), S.225-236, beide enthalten in meinem Band Tradition and Individuality: Essays, Dordrecht: Kluwer, 1992.
 

[31] Vgl. J.C. Nyíri, Tradition and Individuality: Essays, Dordrecht: Kluwer, 1992.